Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Roman und Macht: zum Verhältnis fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte

Ein letzter Punkt bleibt vorweg anzusprechen und kann als Diskussionsrahmen für die beiden mir bekannten neueren Ansätzen dienen, die empfindsame Texte in eine Foucaultsche Perspektive rücken. Die soeben umrissene Einordnung des empfindsamen Romans in historisch sich wandelnde Formen der Problematisierung von Leidenschaften und Geschlecht hat, ganz in diskursanalytischer Tradition, die Texte scheinbar unterschiedslos als Dokumente herangezogen. Sie hat insbesondere der Differenz von literarischem und nicht-literarischem Diskurs keinen fundierenden Status eingeräumt. Dabei ist es doch gerade die Fiktionalität, die diese Differenz ausmacht und die der Frage nach der Wahrheit des Geschlechtlichen, je nach dem, ob sie im fiktionalen oder nicht-fiktionalen Kontext gestellt würde, einen ganz unterschiedlichen Status geben müßte.1 Läßt sich also nicht ein Spezifikum angeben, das die fiktionalen Texte in einen systematischen Kontrast zu den nicht-fiktionalen bringt? Und vernachlässigt der vorliegende Ansatz nicht diese Differenz zugunsten einer unterschiedslosen Zurechnung aller Texte zum Sexualitätsdispositiv?

Nach Rainer Warning (1994, 1992) wären gerade diese Einwände zu erheben, denn in seiner Sicht bilden die großen französischen Romane des 18. Jahrhunderts den "contre-discours" zu einer aufklärerischen Moral, die mit Foucault als "Wille zum Wissen" zu charakterisieren ist und hinter deren Wissensdrang letztlich die "Machtinteressen einer bürgerlichen Welt" (Warning: 1994: 422) stehen. Nun wurde schon klargestellt, daß sich die vorliegende Arbeit der von Warning vertretenen Auffassung anschließt, daß sich empfindsame Texte durch eine Zuordnung zum Foucaultschen Begriff des Sexualitätsdispositivs angemessener als mit dem traditionellen Modell sexueller Repression beschreiben lassen. Wo Warning aber qualitative Differenzen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten erblickt — im Gegensatz zu den nicht-fiktionalen Texten seien die Romane nicht institutionell verankert und inszenierten darüber hinaus die Opazität des Geschlechtlichen dort, wo nicht-fiktionale Texte im Sinne von Foucaults volonté de savoir Wissen produzierten —, scheinen mir auf der Basis der im Folgenden analysierten Texte lediglich graduelle Unterschiede feststellbar. Die untersuchten nicht-fiktionalen Texte weisen in unterschiedlicher Weise eine gewisse Institutionsferne auf, während die fiktionalen Texte institutionelle Kontexte teils sowohl thematisieren als auch zu supplementieren suchen. Die Texte stehen also insgesamt in einem Spannungsfeld zu den religiösen, medizinischen oder pädagogischen Institutionen, mit denen sie ihre Themen gemeinsam haben. Und auch wenn eine vergleichbar intensive Referenz auf die Opazität des Geschlechtlichen, wie sie die empfindsamen Texte charakterisiert, im sexualwissenschaftlichen Kontext erst etwa in den psychoanalytischen Konzepten des Unbewußten und der Verdrängung begegnet, erscheint in den untersuchten Texten die Opazität des Geschlechtlichen nicht als Grenze und Punkt des Scheiterns der Wissensermittlung, sondern als ein notwendiges Korrelat der Problematisierung des Geschlechtlichen unter dem Aspekt der Wahrheit und zugleich als Ansatzpunkt für eine Vielzahl von potentiell konfligierenden Wissensermittlungsverfahren. Die scientia sexualis wird von Foucault ja gerade als ein Wissen darüber, was das Subjekt sich selbst opak macht, bestimmt.2 Ob eine bestimmte Wahrheit sich durchsetzt oder ob die Wahrheit kontrovers bleibt, hängt dabei nicht ausschließlich von dem Wissen selbst, sondern von den Kräfteverhältnissen, in denen es seinen Ort hat, ab.3 Insbesondere in den Kapiteln 5 und 6 wird es zentral um diesen positiven Kontext von Punkten des Nicht-Wissens gehen. Eine (systematische) Korrelation von Opazität und Literarizität würde aber die Fragestellung der Arbeit insgesamt modifizieren: Statt des Einsatzes von Wissen stünde dann die Frage nach dem Spezifikum des Literarischen im Zentrum.4

Nancy Armstrong (1987) vertritt in gewisser Hinsicht die Gegenposition, daß Romane wie conduct books als Instrumente zur Stabilisierung der bürgerlichen Hegemonie unterschiedslos diesen Machtinteressen der bürgerlichen Welt zuzurechnen sind. Armstrong will im Anschluß an Foucaults Histoire de la sexualité zeigen "how the discourse of sexuality is implicated in shaping the novel" (Armstrong 1987: 23). Sie erweitert zu diesem Zweck Ian Watts Beschreibung des "rise of the novel" um einen historischen Geschlechterindex und gelangt so zum Bild eines interdependenten Prozesses von Geschlechter-Konstruktion, Aufstieg des Romans und Aufstieg des Bürgertums bzw. des Kapitalismus5. Allerdings ersetzt Armstrong in ihrer Analyse der Texte des 18. Jahrhunderts unvermerkt die Geschichte der Sexualität durch die Geschichte der Geschlechterrollen. Die Konsequenzen sind einschneidend, denn mit dieser Ersetzung schafft sie einen neuen Kontext für Foucaults Kritik der Repressionshypothese. Von den Geschlechterrollen, von gender, hat ja nie jemand behauptet, daß ihre Unterdrückung typisch für das Bürgertum und seine kulturellen Erzeugnisse wäre. Daß Geschlechterkonzeptionen im Rahmen des Klassenkampfs, der auch den empfindsamen Roman hervorgebracht haben soll, eine wichtige Rolle spielen, ist aber keine Ansicht, die sich bei Armstrong zum ersten Mal formuliert fände oder die erst Foucault ermöglicht hätte, sondern gehört schon zu den traditionellen Positionen, die eingangs dieses Kapitels skizziert wurden.6 So darf es nicht verwundern, wenn Armstrong trotz des Bekenntnisses zu einer "productive hypothesis"7 sinngemäß zu dem Ergebnis kommt, daß das bürgerliche Ideal einer häuslichen Weiblichkeit Frauen in die Asexualität und Körperlosigkeit zwinge: "On grounds that her sexual identity has been suppressed by a class that valued her chiefly for material reasons rather than for herself, the rhetoric of the conduct books produced a subject who in fact had no material body at all" (Armstrong 1987: 95), lautet die Zusammenfassung ihrer Ausführungen zum conduct book. Hier scheint doch weiterhin eine Macht am Werk zu sein, die — nun eben qua Produktion — unterdrückt und die denen, auf die Macht ausgeübt wird, ihre sexuelle Identität und ihren Körper vorenthält.

Einer solchen Macht sind nach Armstrong auch fiktionale Texte zu Diensten: "[...] the politics of the novel are determined, on the one hand, by the genre's tendency to suppress alternative forms of literacy and to produce the homogenized discourse we know as polite standard English", schreibt sie und fällt damit über den Roman das Verdikt des domestizierten Widerstands. Aber sie fügt auch hinzu: "[...] on the other hand, the novel's politics depend on how we use the genre today. In writing this book, I am assuming that one may expose the operations of the hegemony by reading the novel as the history of those operations."8 Indem man die hegemonialen Wirkungen des Romans darstellt, lassen sich in den Kontexten, in denen man dies tut, andere, nicht-affirmative Machteffekte erzielen. Damit ist aber deutlich, auf welcher Ebene Armstrong die Auseinandersetzung ansetzt: Es geht um den Status des Romans in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft der achtziger Jahre. Armstrongs eigene literaturwissenschaftliche Praxis versteht sich als Subversion einer anderen, hegemonialen Verwendung des Romans, die schon dessen Geschichte bestimme.9

Nun ist es sicher legitim, wenn nicht sogar notwendig, die strategische Eingebundenheit der eigenen Bestrebungen zu reflektieren. Problematisch ist es aber, das historische Material nach seiner Rolle in nur einer lokalen strategischen Situation zu beurteilen. So vernachlässigt man, daß nicht nur 'heute', sondern schon 'damals' die Wirkungen der Romane, genau wie die anderer Texte, von den Modalitäten ihres Einsatzes im Rahmen von Machtbeziehungen bestimmt wurden, und vereindeutigt die historischen Verhältnisse im Dienst der (subversiven) Strategie, die man 'heute' verfolgt.

Insofern sowohl Warning als auch Armstrong dazu tendieren, die strategische Offenheit der Texte in eine je unterschiedliche dominante Richtung festzulegen, scheint mir gegen beide Positionen ein ähnlicher Einwand geboten: Weder die Machteffekte von Romanen noch die von anderen Texten sind systematisch, d.h. über den Ort der Texte im System der Diskurse, zu bestimmen. Nach den mehrfach erwähnten Prinzipien der "taktischen Polyvalenz der diskursiven Elemente" und der "kontinuierlichen Variationen" gehört es vielmehr gerade zum Wesen aller diskursiven Fakten, daß sie in unterschiedlichen oder sogar in entgegengesetzten Strategien eingesetzt werden können, wie es zum Wesen von Machtrelationen gehört, daß jede Intervention in ihnen eine potentielle Verschiebung der Kräfteverhältnisse bringt. Es sind also die je konkreten historischen Umstände ihres Einsatzes in Betracht zu ziehen. Sicherlich lassen sich dann Kontexte angeben, in denen die Romane als contre-discours fungieren, andere, in denen sie affirmativ im Sinne einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung eingesetzt werden. Es käme aber einer Vereinseitigung der allen Texten eigenen taktischen und strategischen Offenheit gleich, den Roman ausschließlich entweder als contre-discours oder als Instrument bürgerlicher Hegemonie anzusehen.

Der Verzicht auf eine systematische Bestimmung des Verhältnisses von Roman und Macht, wie Warning sie vorschlägt, muß also nicht darauf hinauslaufen, den Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten einzuebnen. Denn es geht nicht darum zu behaupten, daß es keinen Unterschied mache, um welche Sorte von Text es sich handelt, da alle gleichermaßen Instrumente der kulturellen Hegemonie des Bürgertums wären. Es geht vielmehr darum, genau das Gegenteil herauszuarbeiten. Jeder der untersuchten Texte ist verschieden: in den Punkten, an denen sie ansetzen; in den Relationen, die sie aufbauen; in den Zusammenhängen, in denen sie eingesetzt werden und wirken wollen. Natürlich sind es unter anderem textsortenspezifische Charakteristika, die taktisches Potential und strategische Positionen eines Textes prägen. Die Argumentation, die sich beharrlich immer wieder der Verse George Herberts bedient: "A verse may find him who a sermon flies, / and turn delight into a sacrifice"10, baut genau darauf, daß textsortenspezifische Charakteristika des Romans oder der Dichtung Wirkungen ermöglichen, die anderen Textsorten verwehrt bleiben. Wenn sich der Roman in die Nähe des Verhaltensratgebers oder gar des Frömmigkeitshandbuchs stilisiert oder wenn Tristram Shandy theologische und sexologische Diskurse zitiert und die Kommunikationssituation der Keuschheitsermahnung aufnimmt, so ist damit ebenfalls ein je spezifischer Zweck verbunden. Diese Zwecke aber sind im Rahmen einer historischen und strategischen Analyse zu ermitteln. Die Spezifität der Zwecke ist nicht das Resultat oder das Merkmal der Literarizität des Texts; sie ist genausowenig auf eine Fatalität des domestizierten Widerstands oder eine andere Festschreibung der strategischen Dimension des Romans zu fixieren.

Zweifellos lassen sich aber typisch romanhafte Varianten der Problematisierung von Leidenschaften und Geschlecht ausmachen. Ein Roman muß vor allem Unterhaltung oder Rührung versprechen, er übertreibt die Genüsse wie die Verzweiflung, die Schwierigkeiten wie das Glück der Personen, überzeichnet ihre Qualitäten und schildert Situationen und Entwicklungen, die man in derselben Form nicht im eigenen Leben erwarten darf. Wer das Romanhafte mit der Wirklichkeit verwechselt, bekommt Probleme. Noch Miss Atkins, die Harley, der Man of Feeling, aus der Prostitution rettet, ist das Opfer eines Verführers, der, wie sie berichtet, "not unlike those warm ideas of an accomplished man which my favourite novels had taught me to form" (Mackenzie, Man of Feeling, 57) war. Probleme bekommt aber auch, wer Romane nicht kennt: In Manleys New Atalantis hätte Madam St. Amant ihren Zustand schneller und sicherer erkennen können, wenn sie durch Romane mit den Symptomen und Wirkungen der Liebe vertraut gewesen wäre.11 Doch wie dem auch sei, die unterschiedlichen Wirkungen des Wissens über Leidenschaften und Geschlecht in den Romanen sind jeweils im Rahmen der Untersuchung zu bestimmen. Dazu sind die Texte nach den foyers locaux de pouvoir-savoir, die sie darstellen, und nach denen, in denen sie sich ansiedeln, zu befragen. Das 'Romanhafte' steht gerade für die charakteristischen Modellierungen und die spezifischen Voraussetzungen, unter denen diese Texte ihre Wirkungen in lokalen Zentren von Macht-Wissen entfalten. Pädagogische, theologische, medizinische Schriften haben selbstverständlich andere Anschlußmodi an diese lokalen Zentren. Das Textsortenkriterium regelt die Art der Anschließbarkeit von Texten an lokale Zentren von Macht-Wissen.


  1. Ich möchte sogleich anmerken, daß hier nicht die These vertreten wird, die Romane enthielten 'die Wahrheit' über das Geschlechtliche. Sie problematisieren vielmehr das Geschlechtliche unter dem Aspekt der Wahrheit - im Gegensatz zu früheren Romanen, in denen nicht Wahrheit, sondern "the arts and politics of love" zentral waren.
  2. Vgl. oben S. 46 f. Schon in Les mots et les choses hat Foucault übrigens die Humanwissenschaften definiert als dasjenige, was dem Bewußtsein das enthüllt, was es bestimmt, ohne ihm zugänglich zu sein: "[...] il y'a 'science humaine' [...] partout où on analyse, dans la dimension propre à l'inconscient, des normes, des règles, des ensembles signifiants qui dévoilent à la conscience les conditions de ses formes et de ses contenus" (Foucault 1966: 376).
  3. Dies illustriert der Kontrast zwischen Natura, wo das Wissen über die verborgene Geschlechtlichkeit nach einer nie in Frage gestellten Hierarchie verteilt ist, und Clarissa, wo dieses Wissen zwischen vielen Instanzen strittig ist.
  4. Die Frage nach dem spezifisch Literarischen selbst müßte allerdings auf der Grundlage der dargestellten methodischen Voraussetzungen behandelt werden. Es wäre nach dem Wissen über das Literarische zu fragen, nach den unterschiedlichen Beziehungen, in denen dieses Wissen eingesetzt wird, sowie nach den Subjektivierungsmustern, die es ermöglicht. Das Literarische wäre mithin im Rahmen eines 'Literarizitätsdispositivs' zu situieren.
  5. "[...] one cannot distinguish the production of the new female ideal either from the rise of the novel or from the rise of the new middle classes in England" (Armstrong 1987: 8).
  6. Schon Ian Watt nimmt für die Entstehungszeit von Pamela "very significant changes in the accepted attitude towards the moral and psychological roles of the sexes" an und spricht diesen Veränderungen klassenspezifische Relevanz zu: "[...] in Pamela the courtship [...] involves a struggle, not only between two individuals, but between two opposed conceptions of sex and marriage held by two different classes, and between two conceptions of the masculine and feminine roles [...]" (Watt 1957: 154).
  7. Vgl. etwa Armstrong (1987), p. 23.
  8. Armstrong (1987), p. 261, note 5 zu p. 9.
  9. Dies verdeutlichen besonders ihre Bemerkungen zur Institutionalisierung der feministischen Literaturwissenschaft (vgl. Armstrong 1987: 24 f.).
  10. Vgl. unten S. 94 f.
  11. Vgl. unten S. 212.