Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Verhaltensratgeber: Halifax' Advice to a Daughter (1688)

Die auch im 18. Jahrhundert noch lange Zeit populärste Zusammenstellung von Ratschlägen für das rechte Verhalten einer Frau ist das 1688 erschienene The Lady's New-Year's Gift: or, Advice to a Daughter von George Savile, First Marquess of Halifax. Auch Halifax hat Einsichten in die "arts and politics of love" für seine Tochter parat: "Love is a Passion that hath Friends in the Garrison, and for that reason must by a woman be kept at such a distance, that she may not be within the danger of doing the most usual thing in the World, which is conspiring against her Self [...]" (Halifax, Advice 31) legt er ihr ans Herz. Dabei schildert Halifax keine erotischen Verwicklungen, keine durchkreuzten Pläne, keine heimlichen Abenteuer. Er betrachtet die Situationen, mit denen seine heranwachsende Tochter bald konfrontiert sein wird, und gibt ihr Hinweise, wie sie sich in diesen Situationen am vorteilhaftesten verhalten wird. Die Aufmerksamkeit gilt mit anderen Worten nicht Liebesintrigen, sondern den Situationen, in denen eine Frau von Stand sich zu befinden erwarten kann.

So wird zu Anfang des Werks zwar die Nützlichkeit der Religion im Leben betont, doch sein umfangreichster Abschnitt gilt dem Problem: "how to live with a Husband" (Halifax, Advice 7). Daran schließen sich Fragen der Haushaltsführung und des Verhaltens im gesellschaftlichen Umgang an; es wird davor gewarnt, zu enge Freundschaften einzugehen oder die Mißbilligung des Verhaltens anderer zu eindeutig kundzutun; schließlich geht der Verfasser, bevor er maßvolle Belustigungen zur Entspannung für durchaus unschädlich erklärt, unter den Stichwörtern "Vanity and Affectation" und "Pride" auf besonders gefährdende Aspekte des Geschlechts seiner Tochter ein.

Situationsanalyse, Handlungsspielraum und taktisches Geschick

Die umsichtige Aufmerksamkeit, die angesichts einer als gefahrvoll erfahrenen Umwelt für jedes erstrebte Lebensglück unabdingbar ist, erscheint in Advice to a Daughter leitmotivisch von Anfang an. Die Welt, in der man lebt, ist so aufgebaut, daß, wer nicht aufpaßt, selbst den Schaden hat:

Whilst you are playing full of Innocence, the spitefull World will bite, except you are guarded by your Caution. Want of Care therefore, my dear Child, is never to be excus'd; since, as to this World, it hath the same effect as want of Vertue. (Halifax, Advice 1)

Die soziale Umgebung ("the spitefull World") erscheint nicht nur als Lebensbereich, sondern zugleich als Gefahrenquelle, und trotz der frühen Erwähnung der Religion ist es diese präsente soziale Umgebung ("this World"), auf die sich die väterlichen Ratschläge beziehen. Gefahr für das Lebensglück droht in allen Lebensbereichen. In der Ehe, in der Familie, im gesellschaftlichen Umgang, bei der Wahl von Freunden und Vertrauenspersonen.1 Zugleich ist man dieser Gefahr nicht hilflos ausgeliefert, sondern kann mit der Hilfe von "Caution" und "Care" so agieren, daß man seine Stellung wahrt. Charakteristisch ist dabei das Ausgehen von einer gegebenen Situation und das Ausloten des Handlungsspielraums, der in diesen je konkreten Situationen bleibt.

"How to live with a Husband" formuliert Halifax sein erstes großes Thema, und nicht etwa "How to choose [...]"; denn "[i]t is one of the Disadvantages belonging to your Sex, that young Women are seldom permitted to make their own Choice" (Halifax, Advice 7). Die Situationsanalyse setzt bei der Betrachtung der herrschenden Ungleichheit zwischen den Geschlechtern an. Diese ist einerseits natürlichen Ursprungs2, äußert sich aber auch in der extrem nachteiligen gesetzlichen Lage von Frauen, insbesondere wenn es zu einem Scheidungsprozeß kommt. Klage hierüber wird aber apodiktisch verworfen mit der Bemerkung "That the Institution of Marriage is too sacred to admit a Liberty of objecting to it" (Halifax, Advice 9). So mündet die Situationsanalyse in die Konsequenz, daß von der Nutzung des eigenen Handlungsspielraums alles abhängen wird:

You are therefore to make your best of what is settled by Law and Custom, and not vainly imagine, that it will be changed for your sake. But that you may not be discouraged, as if you lay under the weight of an incurable Grievance, you are to know, that by a wise and dexterous Conduct, it will be in your Power to relieve your self from any thing that looketh like a disadvantage in it. (Halifax, Advice 9 f.)

Auf dieser Grundlage lassen sich bestimmte Situationen annehmen und nach ihren taktischen und strategischen Erfordernissen analysieren:

For your better direction, I will give a hint of the most ordinary Causes of Dissatisfaction between Man and Wife, that you may be able by such a Warning to live so upon your Guard, that when you shall be married, you may know how to cure your Husband's Mistakes, and to prevent your own. (Halifax, Advice 10)

Ist der Gatte untreu, spricht er dem Alkohol zu sehr zu, ist er cholerisch und gewalttätig, ist er ein Geizhals oder hat er nur sehr beschränkte Geistesgaben? Je nach den Umständen und dem Charakter des Gatten sind die taktischen Fähigkeiten der Frau gefordert. So beispielsweise wenn der Ehemann ein Geizhals ist:

The same Man who will grudge himself what is necessary, let his Pride be raised and he shall be profuse; at another time his Anger shall have the same effect; a fit of Vanity, Ambition, and sometimes of Kindness, shall open and inlarge his narrow Mind; a Dose of Wine will work upon this tough humor, and for the time dissolve it. Your business must be, if this Case happeneth, to watch these critical moments, and not let one of them slip without making your advantage of it [...] (Halifax, Advice 16)

Auch der Knauserige hat Momente der Freigiebigkeit, die sich herbeiführen oder jedenfalls abpassen und nutzen lassen. Genaue Kenntnis des Charakters des Gatten, die Fähigkeit, die Situation und ihre mögliche Entwicklung einzuschätzen, Gelegenheiten zu erkennen und wahrzunehmen: dies sind die Qualitäten, auf die Halifax das Lebensglück der verheirateten Frau gründet. Die eigene Situation soll also nicht etwa als "incurable Grievance" (Halifax, Advice 10) erfahren werden, der die Frau ausgeliefert ist, sondern sie präsentiert sich unter dem Aspekt der je spezifisch strukturierten Gelegenheit: als Material, mit dem man die Gestaltung der eigenen Position vornehmen kann. Dies verdeutlichen entsprechende Hinweise für den Umgang mit einem cholerischen Ehemann:

[...] by marking how the Wheels of such a Man's Head are used to move, you may easily bring over all his Passion to your Party. Instead of being struck down by his Thunder, you shall direct it where and upon whom you shall think it best applied. Thus are the strongest Poisons turn'd to the best Remedies; but then there must be Art in it, and a skilful Hand, else the least bungling maketh it mortal. (Halifax, Advice 13)

Unverkennbar erscheint auch die Perspektive des Diplomaten und Politikers, der unter Charles II., James II. und wieder unter William III. höchste Ämter bekleidete3, in der durchgehenden Analogisierung von familiären und politischen Konstellationen. Der ideale Ehemann ist der ideale Herrscher, dem man sich zu seinem eigenen Besten unterordnet.4 Bei einem wenig intelligenten Mann, der seine Herrschaft nicht recht wahrnimmt, ist darauf zu achten, daß diese Herrschaft nicht in unerwünschte Hände gerät:

[...] you must be very undexterous if when your Husband shall resolve to be an Ass, you do not take care he may be your Ass. [...] the surest and most approved method will be to do like a wise Minister to an easie Prince; first give him the Orders you afterwards receive from him. (Halifax, Advice 17)

Im gleichen Licht präsentiert sich der Bereich von "House, Family and Children", in dem die Frau die Regierungsverantwortung trägt:

[...] no respect is lasting, but that which is produced by our being in some degree useful to those that pay it. [...] And upon this principle the respects even of the Children and the Servants will not stay with one that doth not think them worth their Care, and the old House-keeper shall make a better Figure in the Family, than the Lady with all her fine Cloaths, if she wilfully relinquishes the Title to the Government. (Halifax, Advice 20)

Gerade diese diplomatisch-politische Perspektive, die die Komponenten einer gegebenen Situation als Basis für die je einzuschlagenden Schritte nimmt, ist in der Sekundärliteratur auf Unverständnis gestoßen. Schon John Mason (1935), der in seiner Bestandsaufnahme von "English Courtesy Literature and Related Topics" dann doch recht akkurat die einzelnen Ratschläge von Halifax referiert sowie die andauernde Popularität des Werks hervorhebt, spricht von "a cynical little work, with a calm acceptance of the world as the author finds it, and a chilly, selfish, and calculating attitude towards life" (Mason 1935: 85). Janet Todd (1989) kritisiert in ähnlicher Weise:

[...] the feminine image was caught by the Marquess of Halifax in The Lady's New-Year's Gift: or, Advice to a Daughter (1688), which taught female submission and advised girls to use the little reason they possessed to further their compliance. The sensible woman would be constantly aware of her effects on others and would control any tendency towards learning or loquaciousness. (Todd 1989: 35)5

Beide Autoren vermissen offensichtlich einen Anspruch auf Gesellschaftskritik und auf so etwas wie das Recht auf 'Selbstverwirklichung' und können das, was das Werk tatsächlich leistet, nur als das Fehlen dieser Aspekte beschreiben. So bleibt ihnen das entscheidende Subjektivierungsmuster ungreifbar, das Advice to a Daughter seiner Adressatin zur Verfügung stellt.

Halifax sieht die Position der Frau innerhalb der Familie der Gesellschaft ja nicht schlicht in einer unproblematischen und selbstverständlichen Unterordnung. Er empfiehlt nicht das resignierende Sichschicken in die Umstände und das niedere egoistische Kalkül, sondern analysiert die je bestehenden Bedingungen und den Handlungsspielraum, den sie für die Gestaltung des eigenen Schicksals ermöglichen. Gerade auch in Bereichen der Intimität ist die Frau politisches Subjekt, kann sie verantwortlich oder unverantwortlich (gegen sich oder gegen andere) handeln:

You are to have as strict a Guard upon your self amongst your Children, as if you were amongst your Enemies. They are apt to make wrong Inferences, to take Encouragement from half Words, and misapply what you may say or do, so as either to lessen their Duty, or to extend their Liberty farther than is convenient. Let them be more in awe of your Kindness than of your Power. (Halifax, Advice 23)

Wenn Mason den ersten Satz der zitierten Passage herausgreift, um zu bemerken: "This [...] is surely unnecessarily harsh counsel" (Mason 1935: 84), so mißversteht er das Ziel des Ratschlags: Das Entscheidende am Umgang mit Feinden ist nicht die Feindseligkeit des Verhältnisses, sondern die beständige Aufmerksamkeit auf das eigene Verhalten, die deswegen besonders wichtig ist, weil die Gefahr besonders groß ist, daß aus der mangelnden Achtsamkeit Nachteile für einen selbst und für diejenigen, für die man Verantwortung trägt, erwachsen.

Halifax' Text ist kein Appell an den niederen Eigennutz und auch kein ideologisches Instrument, mit dem Frauen von einer nicht konkretisierbaren Macht, die insgesamt ihren Nutzen in der Unterdrückung der Frau fände, eine bestimmte Rolle aufgezwungen wird. Es ist ein Text, der sich innerhalb eines bestimmten Bereichs der Verhaltensproblematisierung situiert und in diesem Bereich bestimmte Modifikationen auslösen kann und will. Für junge Männer, die für eine politische oder diplomatische Laufbahn bestimmt waren, existierte ein solches Modell der Verhaltensproblematisierung schon lange.6 Insgesamt gehören diese Texte zu einer Literatur über das rechte Regieren (Beherrschen seiner selbst, Führen des Haushalts und Erziehung der Kinder, und zuletzt Regieren eines Staats), die in Europa vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blühte7. Daß hier die Lebenssituationen, in denen sich eine verheiratete Frau befinden kann, fokusiert werden, erscheint als eine spezifische Form des Einsatzes der Elemente eines "art de gouverner" (Foucault 1986: 7). Die vorgeschlagenen Mittel können unter den jeweiligen Umständen ganz bestimmte Wirkungen ermöglichen, andere dagegen nicht. Sie bringen bestimmte Erfordernisse mit sich. Sie schließen an bereits bestehende Problematiken an und erlauben, was im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch zu zeigen sein wird, ihrerseits den Anschluß von neuen Problemstellungen.

Das taktisch geschickte Subjekt und die geschlechtliche Leidenschaft

Zu den Bereichen, in denen eine verheiratete Frau mit Umsicht agieren muß, zählt auch jene Konstellation, die für Liebesintrigen charakteristisch ist. Während die geschlechtliche Beziehung zum Ehemann nicht erörtert wird, erhält die geschlechtliche Dimension der Beziehung zu fremden Männern einige Aufmerksamkeit. Da die Frau bei Halifax ihren Status aus ihrer Stellung in der Familie und nicht aus der Anzahl und Qualität ihrer Verehrer ableitet, gilt für den Umgang mit potentiellen Liebhabern das Grunderfordernis einer abwehrenden Umsicht. Es geht darum, die Gefahr für die eigene Position abzuwenden, die aus einer solchen Verwicklung entstehen könnte.

Die Hauptursache der Gefährdung sieht Halifax in dem gesellschaftlichen Prestigegewinn, den ein erotischer Erfolg (oder auch nur das Gerücht eines solchen) für den Verführer darstellt:

Most Men are in one sence Platonick Lovers, though they are not willing to own that Character. They are so far Philosophers, as to allow, that the greatest part of Pleasure lieth in the Mind; and in pursuance of that Maxim, there are few who do not place the Felicity more in the Opinion of the World, of their being prosperous Lovers, than in the Blessing it self, how much soever they appear to value it. (Halifax, Advice 28 f.)

Mit dem Prestigegewinn des Mannes, dem Halifax eine höhere Priorität zuspricht als dem Genuß, geht eine Beeinträchtigung des Ansehens der Frau einher, an welcher deren Geschlechtsgenossinnen ebenfalls interessiert sind: "The best of them will not be displeased to improve their own Value, by laying others under a Disadvantage, when there is fair Occasion given for it." (Halifax, Advice 29)

Es muß folglich vermieden werden, einen solchen begründeten Anlaß für eine Schmälerung des eigenen Ansehens zu geben. Dazu ist folgende Verhaltensweise erforderlich:

To the Men you are to have a Behaviour which may secure you, without offending them. No ill-bred affected Shyness, nor a Roughness, unsuitable to your Sex, and unnecessary to your Vertue; but a way of Living that may prevent all coarse Railleries or unmannerly Freedoms; Looks that forbid without Rudeness, and oblige without Invitation, or leaving room for the sawcy Inferences Men's Vanity suggesteth to them upon the least Encouragements. This is so very nice, that it must engage you to have a perpetual Watch upon your Eyes, and to remember, that one careless Glance giveth more advantage than a hundred Words not enough considered; the Language of the Eyes being very much the most significant, and the most observed. (Halifax, Advice 29 f.)

Gleich, ob man sich unter Feinden, unter Kindern oder unter Männern bewegt: In je angemessener Weise ist in der beständigen Aufmerksamkeit gerade auf die Kleinigkeiten des Verhaltens, aus denen andere Informationen über einen ziehen, die eigene Verantwortung für sich selbst angesiedelt. Das wachsame Aufmerken auf eine potentielle geschlechtliche Dimension des gesellschaftlichen Umgangs ist unerläßlicher Bestandteil jener allgemeinen klugen Umsicht, mit der man seine eigene Position in allen Lebenszusammenhängen im Bewußtsein ihrer tendenziellen Instabilität sichert.

Damit wird das Geschlechtliche, genau wie bereits in der Liebesintrige, primär als eine potentielle Dimension sozialer Beziehungen reflektiert. Es bedarf der Aufmerksamkeit auf die geschlechtliche Dimension, die gerade in den Details des gesellschaftlichen Umgangs angesiedelt ist, weil sie einer korrespondierenden Aufmerksamkeit der anderen Beteiligten anwortet: nämlich der auf die Mehrung ihres Ruhms bedachten Männer einerseits und der von der Minderung des Rufs jeder einzelnen Frau profitierenden anderen Frauen andererseits. Halifax' witzige Bezugnahme auf die platonische Liebe stellt heraus, in welcher Weise die Bezugnahme auf das Geschlechtliche hier erfolgt: offenbar nicht in erster Linie hinsichtlich der körperlichen Lust, die in einer platonischen Liebe ja entbehrlich scheint; auch nicht in jener Beziehung zwischen den Seelen der Liebenden, die die platonische Liebe eigentlich konstituiert; sondern in dem Zusammenhang zwischen dem Geschlechtlichen und der Position, die das Individuum in einem Feld von Machtbeziehungen, in dem es agiert, einnehmen will bzw. tatsächlich einnimmt.

Die Wissensrelationen im Verhaltensratgeber

Die dezentrale Verknüpfung von Liebesintrigen in einem Liebesroman beruhte auf einem Anschlußprinzip, nach dem eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von Intrigen ineinander verschachtelt werden können. Zwar ist die liebesauslösende Frau in gewisser Weise das Zentrum jeder Intrige, doch der Fokus ruht nur im ersten Teil von Behns Love Letters auf der Beziehung von Sylvia und Philander. Eine Reihe von Ereignissen ermöglicht die Erweiterung dieser Konstellation um Brilliard, Octavio, Antonet und Octavios Onkel einerseits ebenso wie das vorübergehende Überwechseln Philanders in eine Intrige mit Calista andererseits.

Der Verhaltensratgeber erfaßt dagegen alle sozialen Beziehungen, in denen sich eine Frau (bestimmten Stands) befinden kann, wählt also alle Szenen danach aus, ob die Adressatin der Ratschläge darin vorkommt. Das Personal von Liebenden, Liebesgegnern und instrumentell beteiligten Dritten kann in diesen Szenen zwar vorkommen (mit der genannten Verschiebung, daß der werbende Liebhaber weiterhin zu denen gehört, die die Position der Frau gefährden können, daß sie ihn aber nicht unterwerfen will, sondern sich gegen die Entstehung von geschlechtlicher Bedeutung vorsehen will); mit der Aufgabe der Haushaltsführung und dem Verhältnis zum Ehemann sind jedoch weitere und von dem der Liebesintrige unterschiedene Brennpunkte der Problematisierung gegeben.

So weit, darauf wurde schon verwiesen, werden jeweils die Modalitäten der sozialen Beziehungen der handelnden Personen reflektiert. Nun begründet das in Advice to a Daughter vermittelte Wissen aber noch zwei weitere Typen von Beziehungen.

1. Auch für die Religion gilt zunächst, daß genau wie in allen anderen Lebensbereichen mit Umsicht und Geschick vorzugehen ist. Man hat sich also vor Aberglauben, vor ostentativer Frömmigkeit wie vor verbohrtem Glaubenseifer wegen der unerwünschten gesellschaftlichen Konsequenzen zu hüten. Religiosität zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß Fragen des Handlungsspielraums und der Geschicklichkeit in einer zusätzlichen Perspektive zum Tragen kommen, denn die Religion setzt einen in ein besonderes Verhältnis zum eigenen Selbst:

Nothing is so kind and inviting as true and unsophisticated Religion: Instead of imposing unnecessary Burdens upon our Nature, it easeth us of the greater weight of our Passions and Mistakes: instead of subduing us with Rigour, it redeemeth us from the Slavery we are in to our selves, who are the most severe Masters, whilst we are under the Usurpation of our Appetites let loose and not restrain'd. (Halifax, Advice 5)

Die recht verstandene Religion ist also der Bereich, der den Handlungsspielraum im Verhältnis nicht zu anderen, sondern zu sich selbst, zu den eigenen Mängeln und Bedürfnissen, betrifft. Denn die eigenen Fehler und Affekte erscheinen (dies zeigen auch die Ausführungen zu "Vanity and Affectation" und "Pride" im weiteren Verlauf) als Faktoren, die in bestimmten Situationen Schaden anrichten können und in bezug auf die folglich wachsame Umsicht gefordert ist. Die "Passions and Mistakes" treten keineswegs als identitätsbegründende Instanz auf. Grundlage der Selbstversicherung ist vielmehr das Bewußtsein der eigenen Handlungsfähigkeit, und die Religion ist die Meßlatte für den Zustand dieses Selbstverhältnisses:

Your Devotion may be earnest, but it must be unconstrained; and like other Duties, you must make it your Pleasure too, or else it will have very little efficacy. By this Rule you may best judge of your own Heart. Whilst those Duties are Joys, it is an Evidence of their being sincere; but when they are a Penance, it is a sign that your Nature maketh some resistance; and whilst that lasteth, you can never be entirely secure of your self. (Halifax, Advice 6)

Unter dem Stichwort der Religion wird hier ein Problembereich der Selbsterkenntnis eröffnet, für den im Rahmen der Liebesintrige kaum Interesse bestand8. Doch das Ende der eben zitierten Passage macht deutlich, daß die Selbstversicherung in den Kontext der Auslotung des eigenen Handlungs-spielraums eingebunden bleibt. Das Wissen über das Selbst, welches durch den Prüfstand der Religionsausübung gewonnen wird, unterscheidet sich nicht quali-tativ von dem, das die Frau etwa über ihren cholerischen oder geizigen Gatten braucht: Es leistet eine adäquate Situationsanalyse und ermöglicht erfolgver-sprechende Schritte.

2. Schließlich konstituiert das dargebotene Wissen insgesamt eine Relation zwischen dem Text und der Rezipientin, die auf einer anderen Ebene liegt. In dieser Beziehung ist der Verfasser des Texts selbst das Subjekt taktischen Geschicks. Halifax hat seine Empfehlungen zur Grundlage der Präsentation seines Texts gemacht. Er hat die Situation analysiert und die geeigneten Mittel gewählt, um sein fürsorgliches Ziel zu erreichen. Er beginnt also damit, seine Leserin zunächst für die Aufnahme des von ihm angebotenen Wissens günstig zu stimmen. Zum einen führt er seiner Tochter die Gefahren vor Augen, auf die sein Rat sie vorbereiten soll. Zum anderen aber thematisiert er die Problematik einer wissensvermittelnden Beziehung selbst. Denn daß das zu vermittelnde Wissen nicht der Tochter zugehört, sondern vom Vater ausgeht, könnte für diese Anlaß sein, dieses Wissen abzulehnen:

There may be some bitterness in meer Obedience: The natural Love of Liberty may help to make the Commands of a Parent harder to go down. Some inward resistance there will be, where Power, and not Choice maketh us move. But when a Father layeth aside his Authority, and persuadeth only by his Kindness, you will never answer it to Good Nature, if it hath not weight with you. (Halifax, Advice 2)

Der fürsorgende Vater muß die Gefahr erkennen und zu vermeiden suchen, indem er sich mit Freundlichkeit und nicht mit Zwang um die Aufmerksamkeit der Tochter bemüht.

Der Text insgesamt konstituiert also ein pädagogisch-didaktisches Verhältnis zwischen dem Sprecher und der Rezipientin. Sowohl das religiöse Selbstver-hältnis als auch die didaktische Wissensvermittlung haben keine Parallele mehr in der Liebesintrige. Selbstverhältnis wie Wissensvermittlung bleiben in Advice to a Daughter zugleich aber auf die leitenden Aspekte der klugen Umsicht und des taktischen Geschicks bezogen.


  1. Vgl. z.B. den Beginn des Abschnitts "Behaviour and Conversation": "It is time now to lead you out of your House into the World. A Dangerous step; where your Vertue alone will not secure you, except it is attended with a great deal of Prudence." (AD 27)
  2. Sie ist begründet durch eine komplementäre Distribution von "reason" und "compliance" (vgl. AD 8).
  3. Die Abfassung von Advice to a Daughter fällt in die Zeit kurz vor der 'Glorious Revolution' 1688, als sich Halifax nach Unstimmigkeiten aus den Diensten James' II. auf seinen Landsitz zurückgezogen hatte.
  4. Vgl. AD 17 f.
  5. Auch Rita Goldberg teilt en passant einen solchen Seitenhieb aus: "The Marquis of Halifax [...] certainly thinks of women as dangerously weak-minded, and looks upon intellectual curiosity as a hindrance to a woman in her domestic life" (Goldberg 1984: 46).
  6. Dies hat auch Nancy Armstrong gesehen: "Until around the end of the seventeenth century, the great majority of conduct books were devoted mainly to representing the male of the dominant class" (Armstrong 1987: 61).
  7. Vgl. Foucault (1986) zur Literatur über einen "art de gouverner" (Foucault 1986: 7), die Foucault zum Ausgangspunkt für eine "histoire de la gouvernementalité" (Foucault 1986: 14) nehmen wollte. Auch der Text von Halifax müßte wohl in den Kontext einer grundlegenden Statusänderung der Familie (vgl. Foucault 1986: 13) eingeordnet werden. Eine solche Diskussion führt jedoch über den vorliegenden Zusammenhang hinaus.
  8. Auch wenn dieser Aspekt etwa in der oben zitierten Passage, in der Sylvia ihre veränderten Gefühle für Octavio erkennt, anklingt (vgl. Behn, Love Letters, 190).