Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Frömmigkeitshandbuch: The Whole Duty of Man (1658)

Das strategische Ziel der Bewahrung der eigenen Seele

The Practise of the Christian Graces: or, The Whole Duty of Man, zuerst 1658 erschienen und ab 1659 bis ins späte 18. Jahrhundert hinein als The Whole Duty of Man beständig wieder aufgelegt, setzt mit einer ähnlichen Problemstellung ein, wie sie zuletzt für Halifax' Advice to a Daughter herausgearbeitet wurde:

The only intent of this ensuing Treatise, is to be a short and Plain Direction to the very meanest Readers, to behave themselves so in this world, that they may be happy forever in the next. But because 'tis in vain to tell men their Duties, till they be perswaded of the necessity of performing it; I shall before I proceed to the Particulars required of every Christian, endeavour to win them to the practice of one general Duty preparatory to all the rest, and that is the Consideration and CARE of their own SOULS, without which they will never think themselves much concern'd in the other. (Whole Duty of Man, a1r)

Der Text will Wissen vermitteln. Dieses Wissen soll auch die schlichtesten Leser in den Stand setzen, ihr Verhalten in dieser Welt so auszurichten, daß sie ein ewiges Glück in der nächsten erlangen. Genau wie für Halifax stellt sich für den Verfasser der Whole Duty of Man1 das Problem der Vermittlungsrelation: Damit das Wissen, das der Text enthält, Grundlage für das Verhalten von Individuen werden kann, müssen diese zuerst einmal dazu disponiert werden, das in Aussicht gestellte Wissen für relevant zu halten. Auch diese Disposition der Leser braucht eine Wissensbasis, und diese Basis gilt es vorweg zu schaffen.

In Advice to a Daughter waren es das Wissen um die eigene Bedrohtheit durch eine "spitefull World" (Halifax, Advice&benbsp;1) und die Einsicht in die väterliche Fürsorge, die die Belehrung durch den Vater auf fruchtbaren Boden fallen lassen und die Adressatin von der Notwendigkeit von "Care" und "Caution" überzeugen sollten. Die Anweisungen der Whole Duty of Man beziehen sich zwar ebenfalls auf das Verhalten in dieser Welt; doch das Ziel, das erreicht werden soll, ist die persönliche Seligkeit in der nächsten Welt. Der Verfasser nennt vier Aspekte, die für einen Bedarf an Besorgtheit um die Seele sprechen:

There be FOUR things especially, which use to awake our care, the first is the Worth of the thing, the Second the Usefulness of it to us, when we cannot part with it without great damage and mischief, the Third the great Danger of it, and the Fourth the Likelihood that our care will not be in vain, but that it will preserve the Thing cared for. (Whole Duty of Man, a1v)

Der unübertreffliche Wert der Seele rührt erstens aus ihrer Gottesebenbildlichkeit ("it is made after the Image of God", Whole Duty of Man, a1v), zweitens aus ihrer immensen Dauerhaftigkeit. Die Nützlichkeit der Seele erweist sich angesichts der unendlichen Höllenqualen, die der verlorenen Seele drohen. Bedroht ist sie einerseits von äußeren Feinden, andererseits von innen heraus. Ihre äußeren Feinde sind der Teufel, das Fleisch und die Welt. Von innen ist sie gefährdet (wie der Körper durch Krankheit) durch eine Verderbtheit des Verstands, des Willens und der Affekte, die als Erbsünde vom Sündenfall herrührt. Christi Erlösungstod und der neue Bund eröffnen schließlich viertens die berechtigte Aussicht auf eine erfolgreiche Rettung der Seele.2

Das Wissen und der Wille, dieses Wissen einzusetzen, die beide zur Rettung der Seele vonnöten sind, haben die Menschen durch den Fall Adams verloren: "[...] by that one Sin of his he lost both the full Knowledge of his Duty, and the Power of performing it" (Whole Duty of Man, a5r). Die Whole Duty of Man bietet den Lesern gerade dieses Wissen, und es kommt nun auf deren Willen an, dieses Wissen anzunehmen und es zur Grundlage ihrer Handlungen zu machen.

Dieses erforderliche Wissen gliedert sich in drei große Bereiche, die sich aus einem Apostelwort ergeben: Die Summe der Pflichten des Christen ist "contain'd in the words of the Apostle, Tit.2.12. That we should live soberly, righteously, and godly in this present world; where the word Soberly contains our duty to our selves; Righteously, our duty to our neghbour [sic], and Godly, our duty to God" (Whole Duty of Man, 4). Das Verhältnis zu sich selbst, das Verhältnis zu anderen und das Verhältnis zu Gott sind die drei miteinander verknüpften Bereiche, in denen der Christ auf eine Weise handeln muß, die gewährleistet, daß seine Seele nicht verlorengeht und den ihr drohenden Gefahren zum Opfer fällt.

Im Vergleich mit Advice to a Daughter läßt sich nicht nur ein unterschiedliches strategisches Ziel feststellen: die Rettung der Seele statt der Behauptung der sozialen Position. Es sind mit dem Fleisch und dem Teufel neben die "spitefull World" noch zwei weitere Faktoren getreten, die dieses Ziel bedrohen. Auch wenn also hier eine strategische Problemstellung nachgewiesen werden kann, so unterscheidet sich die Position von Leidenschaften und Geschlecht innerhalb der von der Whole Duty of Man geschaffenen strategischen Konstellation doch fundamental von derjenigen in den beiden bislang besprochenen Texten. Denn die Leidenschaften sind nicht mehr nur das Feld, auf dem die Individuen Auseinandersetzungen um soziale Positionen austragen. Als flesh tritt die geschlechtliche Leidenschaft in die Reihe der Gegner, die mit eigenständigen Handlungen das Ziel, die Seele zu retten, gefährden können, während es sowohl in Aphra Behns als auch in Halifax' Text immer andere Menschen, nicht aber Komponenten der eigenen Identität sind, von deren Aktionen dem einzelnen Gefahr droht. Das Fleisch ist der Seele auf zweierlei Weise besonders gefährlich. Erstens operiert es nicht aus der Entfernung, sondern immer schon aus unmittelbarer Nähe der Seele:

[...] an Enemy neer us is more to be feared then one at a Distance, for if he be far off, we may have time to arm, and prepare ourselves against him, but if he be near he may steal on us unawares. And of this sort is the flesh, it is an Enemy, at our Doors, shall I say? Nay in our Bosoms, it is always near us, to take occasion of doing us mischiefs. (Whole Duty of Man, a3r f.)

Zweitens liegt die Gefährlichkeit des Fleisches in seiner verdeckten Wirkungsweise, die ihm den Anschein von Annehmlichkeit gibt:

[...] the Baser and Falser an Enemy is, the more dangerous [...]. And this again is the flesh, which like Joab to Abner, 2 Sam.3.27. Pretends to speak peaceably to us, but wounds us to death; 'tis forward to purvey for Pleasures and Delights for us, and so seems very kinde, but it has a hook under that bait, and if we bite at it we are lost. (Whole Duty of Man, a3v)

Mit dieser Persönlichkeitskomponente, die in Komplizität mit einem durch den Sündenfall verderbten Willen steht, hat es das christliche Subjekt immer auch zu tun, wenn es in bezug auf Leidenschaften und Geschlecht seine Pflichten gegen sich selbst, gegen seinen Nächsten und gegen Gott erfüllen will. Und die Erfüllung nur dieser Pflichten kann ja zur Erreichung des höchsten Lebensziels, nämlich die eigene Seele zu retten, führen.

Die Praxis des Umgangs mit dem Fleisch: Keuschheitshandlungen

Im Rahmen der Pflichten des einzelnen gegen sich selbst erscheint das Geschlechtliche unter dem Stichwort der chastity als vornehmste der Pflichten, die man dem eigenen Körper schuldet. Sie konkretisiert sich zunächst als Kenntnis der verschiedenen Formen der "uncleanness", deren man sich zu enthalten hat:

[...] this vertue of chastity consists in a perfect abstaining from all kinds of uncleanness; not only that of adultery, and fornication, but all other more unnatural sorts of it, committed either upon our selves, or with any other. In a word, all acts of that kinde are utterly against Chastity, save onely in lawful marriage. And even there men are not to think themselves let loose to please their bruitish [sic] appetites, but are to keep themselves within such rules of moderation, as agree to the end of marriage, which being these two, the begetting of Children, and the avoiding of fornication, nothing must be done which may hinder the first of these ends; and the second aiming onely at the subduing of lust, the keeping men from any sinful effects of it, is very contrary to that end to make marriage an occasion of heightning, and enflaming it. (Whole Duty of Man, 168 f.)

Rhetorisch wirkt diese Passage eher ungeschickt. Das Wesen der Keuschheit bestehe in der Unterlassung.3 Darauf folgt ein unentschlossener Versuch der Aufzählung des zu Unterlassenden (Ehebruch, Hurerei, sämtliche unnatürlicheren Varianten, an denen keine andersgeschlechtlichen Partner beteiligt sind), der in die pauschale Ablehnung dieser Praktiken mündet, um sie dann aber im Rahmen der Ehe für erlaubt zu erklären. Dabei beabsichtigt der Verfasser natürlich nicht die Absurdität, die die behauptete Zulässigkeit des Ehebruchs, der Hurerei und der Ausdehnung von sexueller Interaktion auf andere Körperteile, andere Beteiligte im Rahmen der Ehe darstellt. Was diese Absurdität überhaupt entstehen läßt, ist die Tatsache, daß das Geschlechtliche nicht ausschließlich als Feind des Bestrebens, die eigene Seele zu retten, erscheint, sondern zugleich als Element einer Beziehung vorkommt, innerhalb deren es nicht schädlich, sondern geradezu notwendig ist. Es gibt also eine Beziehung, in deren Rahmen jene pauschale Enthaltsamkeitsregel nicht gilt, sondern einem Wissen darüber, wie geschlechtliche Aktivität richtig auszuüben ist, weicht. Für die Ehe gelten "rules of moderation".

Für bestimmte Beziehungen, nämlich diejenigen zwischen Ehemann und Ehefrau, gibt es also Anleitungen zum geschlechtlichen Handeln. Aber ist in allen anderen Beziehungen die Keuschheit tatsächlich ein Nicht-Handeln? Die Anleitungen, die die Whole Duty of Man gibt, sehen ja doch eine Vielzahl von Denkvorgängen, Aussagen und Handlungen vor, die sich alle auf das Geschlechtliche beziehen.

[...] this vertue of chastity reacheth not only to the restraining of the grosser act, but to all lower degrees; it sets a guard upon our eyes, according to that of our Saviour, Mat. 5.28. He that looketh on a woman to lust after her, hath committed adultery with her already in his heart; and upon our hand as appears by what Christ adds in that place, If thy hand offend thee, cut it off: so also upon our tongues, that they speak no immodest or filthy words, Let no corrupt communication proceed out of your mouth, Ephes 4.29. (Whole Duty of Man, 169)

Was sich als wachsame Wahrung der Keuschheit im Zeichen einer zentralen 'Nicht-Handlung' präsentiert, konkretisiert sich als die Inbezugsetzung potentiell jedes Blicks, jeder Handlung, jedes Sprechens mit dem Geschlechtlichen. Keuschheit erfordert mithin die gleiche Wachsamkeit hinsichtlich der Rede und der Blicke, die auch Halifax seiner Tochter empfahl. Doch soll die Wachsamkeit hier nicht verhindern, daß eine gesellschaftlich nachteilige sexuelle Bedeutung entsteht und in Umlauf gerät, sondern es soll eine solche Bedeutung für das Individuum selbst verhindert werden.

In derselben Weise konkretisiert sich die Keuschheit in bezug auf "our very thoughts, and fancies": "we must not entertain any foul or filthy desires, nor so much as the imagination of any such thing" (Whole Duty of Man, 169). Auch hier geht es nicht in erster Linie um das 'Nicht-Denken', sondern um eine Anleitung zum richtigen Denken: Das Verderbliche der Unkeuschheit muß, um die eigene Wachsamkeit zu motivieren, ständig im Bewußtsein gehalten werden: "Uncleanness" zieht die Seele zum Tierischen hinab, dem Körper verursacht sie "many foul and filthy, besides painful diseases" (Whole Duty of Man, 170); dazu kommt die außerordentliche Schwere der von Gott dafür vorgesehenen Strafen, für die "Fire and Brimstone from Heaven upon Sodome and Gomorrah" (Whole Duty of Man, 171) nur ein Beispiel unter vielen ist. Die Schwere der Strafen wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß die Verletzung der Pflicht zur Reinheit des eigenen Körpers auch eine Verletzung der Gottespflicht ("a kind of sacriledge, a polluting those bodies, which God hath chosen for his Temples", Whole Duty of Man, 171) ist. Als Bruch der Verpflichtungen nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen Gott und den Nächsten ist sie die Sünde schlechthin, die Sünde, die den Zugang zum Himmelreich verschließt:

[...] This sin shuts us out from the Kingdom of Heaven, wherein no impure thing can enter. And we never find any list of those sins, which bar men thence, but this of uncleanness hath a special place in it. Thus it is Gal.5.19 and so again, 1 Cor.6.9. (Whole Duty of Man, 171 f.)

All diese Erwägungen sind beständig im Bewußtsein zu halten.

Daß wir es nicht mit reinen Verboten zu handeln und zu denken zu tun haben, wird nochmals unterstrichen, wenn die Whole Duty of Man nach der referierten Unterweisung eine Liste von Hilfestellungen angibt, die die Bemühung um die Wahrung der Keuschheit im Alltag unterstützen sollen.4 Zuerst sind lustvolle Regungen früh zu erkennen und zu überwinden; man überwindet hier nicht durch Kampf, sondern durch Flucht. Zweitens ist stets eine Beschäftigung auszuüben, denn Unbeschäftigtheit läßt der Versuchung Zeit und Raum zur Ausbreitung. Dann darf man sich weder die Erinnerung an vergangene Momente des Genusses gestatten noch in Gesellschaft verweilen, deren 'lose' Moral das eigene Streben nach Keuschheit kompromittieren könnte. Schließlich helfen Gebet und Fasten gegen Anfechtungen. Versagen aber alle diese Mittel, so muß eine Ehe eingegangen werden, um der Sündhaftigkeit des Geschlechtlichen durch seine Ausübung im Einklang mit den Zwecken der heiligen Ehe gemäß den Regeln der Mäßigkeit zu entgehen. Das Ziel der geschlechtlichen Nicht-Aktivität erfordert offensichtlich ein umfassendes und differenziertes Aufgebot an Gedanken, Worten und Werken, die nicht unterlassen, sondern gedacht, gesprochen und getan werden sollen.

Dabei leiten diese Vorgaben (immer mit Ausnahme der erwähnten "rules of moderation") ausdrücklich nicht zu geschlechtlichen Handlungen an; was die Pflicht der Keuschheit stattdessen fordert, sind Handlungen mit Referenz auf eine geschlechtliche Instanz (nämlich das Fleisch). Im Sinne dieser Forderung lassen sich nun im Zeichen der Keuschheit eine Vielzahl von Handlungen auf eine geschlechtliche Instanz referieren. Die Überwachung der eigenen Blicke, Gesten, Worte und Gedanken; die immer wachsame Früherkennung geschlechtlicher Regungen; die stetige Beschäftigung, die das Ziel hat, geschlechtlichen Regungen keinen Spielraum zu lassen; das aufmerksame Meiden aller Gelegenheiten, die dem Geschlechtlichen Raum bieten könnten; das Beten und Fasten — all diese Handlungen sind nicht zutreffend als reine Negativität, als bloßes Meiden alles Geschlechtlichen zu beschreiben, sondern es sind Handlungen mit permanenter Referenz auf eine geschlechtliche Instanz. Das Gebot der Keuschheit ermöglicht die Inbezugsetzung einer Vielzahl von Handlungen, die nicht unmittelbar die Physiologie der Fortpflanzung betreffen und die auch nicht in einem direkten Bezug zur eigenen Stellung und Familie oder Gesellschaft stehen, zu einer als Teil des Selbst begriffenen geschlechtlichen Instanz.

Als Beleg für eine daraus resultierende starke Ausweitung der geschlechtlichen Referenz läßt sich gleich die hierarchisch auf die Keuschheit folgende körperliche Tugend, die der Mäßigkeit5, anführen. Mäßigkeit im Trinken und Essen verhindert, daß im Körper überschüssige Wärme aufkommt, die die physiologische Tendenz zur uncleanness vergrößert. Jede Mahlzeit, ja letztlich jeder Bissen gerät so zum Austragungsort der Auseinandersetzung mit dem Fleisch. Auch die Mäßigkeit in der Kleidung stellt sicher, daß deren drei Funktionen6 gerade nicht dem Wirken des Fleisches Vorschub leisten. Sie dient nämlich zur Verhüllung der Nacktheit, zum Schutz gegen Kälte und zur Unterscheidung der Geschlechter und sozialen Schichten. Kleidung darf also nicht so gewählt werden, daß sie Stand oder Geschlecht der Person zweifelhaft macht; es darf nicht über modischen Variationen die wärmende Funktion der Kleidung in Vergessenheit geraten, und insbesondere darf nicht die verhüllende Funktion zur Wahrung der Scham gerade durch aufreizende Andeutungen und Partialentblößungen ins Gegenteil verkehrt werden. Der Ursprung der Kleidung aus dem Sündenfall erfordert auch, daß diese keinesfalls zum Anlaß für Stolz genommen werden darf; vielmehr verdankt sie sich der Schande des Menschen, erinnert an die Erbsünde und muß mit Scham und Zerknirschung zusammengedacht werden.

In seinem einige Jahre vor der Whole Duty of Man entstandenen Rule and Exercises of Holy Living gibt Jeremy Taylor7 sogar Anleitungen für den Fall, daß man im Laufe der Nacht erwacht ("Ejaculations and short meditations to be used in the Night when we wake", Taylor, Holy Living, 56). Neben diversen Nachtszenen, die man sich vergegenwärtigen soll — Jakobs Kampf mit dem Engel als Vorbild für ausdauernde Bitte um Gottes Segen; der Todesengel, der die Erstgeburt der Ägypter tötete und die Israeliten verschonte als Zeichen für Gottes Strafe des Ungehorsams; Jesu Qualen im Garten und deren Grund in der eigenen Sündhaftigkeit; die vier letzten Dinge u.a.m. —, findet sich auch dieser Vorschlag:

Meditate on the Angel who destroyed in a night the whole army of the Assyrians for fornication. Call to minde the sins of thy youth, the sins of thy bed; and say with David, My reins chasten me in the night season, and my soul refuseth comfort. Pray for pardon and the grace of chastity. (Taylor, Holy Living, 56)

Die keusche Wachsamkeit, die Gedanken, Worte und Werke, die zu taktischen Maßnahmen zur Sicherung der ewigen Seligkeit gegen deren Bedrohung durch das Fleisch geraten, ist tendenziell lückenlos — oder genauer: Es finden sich immer neue Lücken, in die der Konflikt mit dem Fleisch sich einbetten und in denen er sich austragen läßt.

Das Fleisch und der Nächste: Respekt für das Recht anderer

Zu den Dingen, die das zehnte Gebot zu begehren verbietet, zählt unter anderem thy neighbour's wife. Die Verführung einer verheirateten Frau zum Ehebruch stellt aus der Perspektive der Pflicht zur Gerechtigkeit gegen den Nächsten den schlimmsten Diebstahl dar, den man begehen kann. Nicht nur bringt man neben der eigenen Versündigung Unheil über die Seele der Frau; dem betrogenen Mann raubt man sein Wertvollstes, fügt ihm die inneren Qualen der Eifersucht zu und gibt ihn der Verachtung der Welt preis. Man schädigt ihn überdies materiell, indem man ihn zwingt, für Kinder aufzukommen, die nicht die seinen sind, wie man auch die legitim gezeugten Kinder des Mannes schädigt, deren Erbe sich entsprechend verkleinert.8 Im Verhältnis des einzelnen zu anderen ist also in bezug auf geschlechtliche Handlungen die gänzliche Unterlassung gefordert.

Die Pflicht der völligen Enthaltsamkeit von geschlechtlichen Handlungen aus Respekt für das Recht anderer ist aber nur in bezug auf diese anderen eine Anleitung zum Nicht-Handeln. Sie schließt in zwei Hinsichten an die Pflichten des einzelnen gegen sich selbst an. Denn einerseits gelten innerhalb der Ehe andere Regeln für das geschlechtliche Handeln, andererseits ruft die Bemühung um die Unterlassung geschlechtlicher Handlungen wieder jene Handlungen der Keuschheit auf den Plan, die im vorigen Abschnitt detailliert wurden.

Für Eheleute nennt die Whole Duty of Man einen umfassenden Katalog von gegenseitigen Pflichten, der von der Frau obedience, fidelity (im Geschlechtlichen wie in der Haushaltsführung) und love, vom Mann — ebenfalls in dieser Reihenfolge — love, faithfulness to the bed, maintenance und instruction verlangt. Füreinander beten und einander beistehen sollen beide Ehepartner gleichermaßen.9 Mit den Stichworten fidelity bzw. faithfulness ist nun für die Eheleute wieder vorrangig die Pflicht benannt, keine geschlechtlichen Kontakte mit anderen als dem Ehepartner zu haben. Die "rules of moderation", der doppelte Zweck der ehelichen Geschlechtlichkeit (Zeugen von Kindern und Vermeidung von Unzucht), von denen unter dem Stichwort der Keuschheit die Rede war, finden sich an der Stelle, wo der Fokus auf der Beziehung des Individuums zum Nächsten (hier: zum Ehepartner) liegt, nicht mehr wiederholt. Auch hier läßt sich die Ersetzung von geschlechtlichen Handlungen durch Handlungen mit Referenz auf eine geschlechtliche Instanz feststellen, die schon für die Pflichten gegen sich selbst charakteristisch war. Insofern das Individuum hinsichtlich des Geschlechtlichen handeln soll, tritt immer wieder die Beziehung zu sich selbst in den Vordergrund, während die Beziehung zu anderen eine Funktion dieser Beziehung zu sich selbst wird.

Die Ehe ist der sozioreligiöse Rahmen für jene Handlungen der Keuschheit, die nicht vorrangig Handlungen mit Referenz auf eine intrapersonale geschlechtliche Instanz, sondern zugleich selbst geschlechtliche Handlungen sind. Nun sind vom christlichen Subjekt aber auch noch Handlungen gefordert, die der sozialen Herstellung und Sicherung dieses sozioreligiösen Rahmens geschlechtlicher Handlungen dienen: nämlich im Bereich der Partnerwahl bzw. der Eheanbahnung, welcher die Pflichten der Eltern und Kinder gegeneinander betrifft.10

Auch hier leiten sich die Vorgaben für das rechte Verhalten vorrangig aus dem Respekt ab, den man dem Recht des anderen schuldet. Das Akzeptieren des von den Eltern bestimmten Ehepartners gehört für Kinder zum geschuldeten Gehorsam, der wieder zusammen mit Ehrerbietung, Liebe und Fürsorge im Alter zu den Kindespflichten gehört. Die Gehorsamspflicht ist dabei aus dem Besitzrecht begründet, das die Eltern an den Kindern haben (wie es schon der Mann an seiner Frau hatte):

[...] of all the acts of disobedience, that of marrying against the consent of the Parent, is one of the highest. Children are so much the goods, the Possessions of the Parent, that they cannot without a kind of theft, give away themselves without the allowance of those, that have the right in them [...] (Whole Duty of Man, 291)

Eine Verweigerung des Gehorsams ist nur erlaubt, wenn in der Befolgung einer Anordung eine höhere Pflicht verletzt würde. Es gilt:

[...] when 'tis [...] necessary to refuse obedience, he [the child] should take care to do it in such a modest, and respectful manner that it may appear 'tis conscience onely, and not stubbornness moves him to it. But in case of all lawful commands; that is, when the thing commanded is either good, or not evil, when it hath nothing in it contrary to our duty to God, there the childe is bound to obey, be the command in a weightier or lighter matter [...] (Whole Duty of Man, 290)

Es bedarf also der genauen Abwägung auf Kindesseite, ob ein Widerstand gegen eine von den Eltern geplante Ehe erlaubt — und das heißt immer auch gleich: nötig — ist, denn wo Widerstand nicht um eines höheren Gutes Willen Pflicht ist, da ist er auch nicht erlaubt.

Komplementär dazu wird den Eltern neben den Pflichten der Nährung, Taufe, Erziehung, Unterhalt und Fürsorge für die Kinder das Gebot der Billigkeit in ihren Anordnungen aufgegeben, und der Verfasser geht zur Illustration wieder ausführlich auf die Frage der Gattenwahl ein:

[...] Parents must take heed, that they use their power over their children with equity, and moderation, not to oppress them with Unreasonable Commands, only to exercise their own authority, but in all things of weight consider the real good of their children, and to press them to nothing, which may not consist with that. This is a rule whereof Parents may often have use, but in none greater then in the business of marrying their children, wherein many that otherwise are good Parents, have been to blame, when out of an eagerness of bestowing them wealthily, they force them to marry utterly against their own inclinations, which is a great tyranny, and that which frequently betrayes them to a multitude of mischiefs, such as all the wealth in the world cannot repair. (Whole Duty of Man, 304)

Mit einem leichten Übergewicht zugunsten der Eltern sind die Pflichten aller Beteiligten bei der Partnerwahl gegeneinander ausbalanciert.11 Dabei ist nun offensichtlich die Beziehung der prospektiven Partner — die im Zentrum der Liebesintrige stand — fast völlig ausgespart. Stattdessen wird zum einen die Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern, über die sie das Verfügungsrecht haben, problematisiert. Zum anderen geht es wie in Advice to a Daughter sogleich um die Beziehung zwischen Verheirateten. Diese Beziehung allerdings ist hinsichtlich des Geschlechtlichen weniger eine Beziehung zwischen Geschlechtspartnern als vielmehr eine der Varianten der Beziehung des Individuums zu seinem Fleisch.

Damit lassen sich die Kontraste des Frömmigkeitshandbuchs zu Liebesroman und Verhaltensratgeber beleuchten. Nicht nur ist für den Christen das Fleisch als handelnde Instanz unter die Gegner, mit denen er oder sie es zu tun hat, getreten, während die Auseinandersetzungen sich in den beiden ersten Modellen zwischen gesellschaftlichen (und damit nicht intrapersonalen) Akteuren abspielten. Hinsichtlich der sozialen Dimension des Frömmigkeitshandbuchs zeigte sich, daß der Fokus der Problematisierung jeweils anders gelagert ist. Zwar kommt in allen Texten die Konstellation von Liebenden, Eltern und Verwandten, Dienern und unpassenden Liebenden vor. Doch stellt die Liebesintrige das liebende Paar ins Zentrum und weist eine große Anschließbarkeit und Verwicklungsfähigkeit der einzelnen Intrigen auf; der Verhaltensratgeber hat sein kontinuierliches Element in der Konzentration auf das in einer Situation angemessene Verhalten der Frau; das Frömmigkeitshandbuch klammert gerade den Aspekt der Intrige aus, problematisiert stattdessen unter dem Stichwort der Keuschheit das Selbstverhältnis der beteiligten Personen und leitet seine Empfehlungen für ihr Verhalten in Situationen, die denen der Liebesintrige entsprechen, aus diesem Selbstverhältnis ab. Liebende, Eltern, Eheleute, Diener bekommen zweifellos vom Frömmigkeitshandbuch je nach Stand, Geschlecht und Position zueinander verschiedene Pflichten, wenn sie interagieren; ihre Pflichten gegen sich selbst sind unabhängig davon dieselben.

Die Ableitung der sozialen Dimension (der Dimension also, in der Individuen in eine Beziehung zueinander treten) aus der intrapersonalen Dimension (der Keuschheit) führt zu einem weiteren entscheidenden Unterschied hinsichtlich der Beziehung zwischen der Person und dem Wissen über Leidenschaften und Geschlecht, der nun noch zu betrachten ist. Denn während etwa in der Liebesintrige nur Personen mit ganz bestimmten Merkmalen als Liebende in Betracht kamen, ist für das Frömmigkeitshandbuch jedes Individuum, gleich was seine Position innerhalb einer sozialen Konstellation ist, mit der Dimension des Fleisches ausgestattet. Jeder Christ hat auf dieser Grundlage dann auch eine Pflicht, für die es in den beiden anderen Modellen keine Entsprechung gibt: Im Rahmen seines Verhältnisses zu Gott muß der Christ die Wahrheit über sich und seine Handlungen still und ausführlich formulieren.


  1. Als Verfasser wird heute allgemein Richard Allestree angesehen.
  2. Vgl. Whole Duty of Man a1v ff.
  3. Vgl. dazu auch weiter unten: "The loveliness of this Vertue of Chastity needs no other way of describing then by considering the loathsomeness and mischiefs of the contrary sin [...]" ( Whole Duty of Man 170).
  4. Vgl. Whole Duty of Man 172 f.
  5. Vgl. Whole Duty of Man 174 ff.
  6. Vgl. Whole Duty of Man 201 ff.
  7. Auch Taylors Holy Living ist in die drei Hauptteile "Sobriety", "Justice" und "Religion", die die Pflichten gegen sich selbst, gegen den Nächstn und gegen Gott betreffen, gegliedert. Taylor spricht ähnliche Empfehlungen zur Wahrung der Keuschheit aus, und zwar mit Variationen gleich zweimal, nämlich als " Rules for suppressing voluptuousnesse " (Taylor, Holy Living, 62 ff.) und als " Remedies against uncleannesse " (Taylor, HOLY LIVING, 83 ff.).
  8. Vgl. Whole Duty of Man 226-229.
  9. Vgl. hierzu Whole Duty of Man 311 ff.
  10. Vgl. Whole Duty of Man 286 ff.
  11. In Texten, die die Rolle der Diener in einem Haushalt stärker berücksichtigen, ist auch deren potentielle Rolle bei Eheanbahnungen hervorgehoben: "[...] of all the mischiefs, a Servant is capable of doing his Master's Son, there is none I think greater than the assisting him in a conceal'd Courtship, or aiding him in carrying on a Marriage without the Knowledge, or what is worse, contrary to the will of his Father; all the rest seem to be but single sins, but this is a complication of all mischiefs together, the Child's Virtue, Honour and Interest, are all betrayed at once [...] What Bridewell, nay what gibbet doth not that Servant deserve, that aids the poor Creature thus to undo himself, nay it may be, not himself only, but his Father and his whole Family too?" (Lucas, The Duty of Servants [...], p. 151 f.).