Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Bekenntnis und Nicht-Wissen: Die Wahrheit und die 'wahre' Wahrheit über Clarissas Herz (1747-48)

Die Elemente der History of a Young Lady

Ende des Jahres 1747 veröffentlicht der Herausgeber von Pamela die ersten beiden Bände1 von Clarissa: or, The History of a Young Lady. Sie schildern die Auseinandersetzungen in Clarissa Harlowes Elternhaus, die sich aufgrund der Durchkreuzung ihrer angestrebten Verbindung mit Robert Lovelace und ihrer Weigerung, den stattdessen von ihrer Familie vorgeschlagenen Mann zu heiraten, entwickeln und die in ihre fatale Flucht mit Lovelace münden. Zwei weitere Bände, die Ende April 1748 folgen, zeigen das Zusammenleben von Clarissa und Lovelace im Haus der vermeintlichen Witwe Sinclair, Lovelaces Versuche, Clarissa zu seiner Mätresse zu machen, und Clarissas Versuche, Lovelace als ehrenhaften Bewerber zu behandeln und sich zugleich wieder mit ihrer Familie zu versöhnen; sie enden mit Clarissas erneuter Flucht, diesmal nach Hampstead, wo sie allerdings Lovelace bereits aufgespürt hat. Die letzten drei Bände des Romans erscheinen schließlich im Dezember 1748; sie enthalten Clarissas Vergewalti-gung, ihre letzte, erfolgreiche Flucht vor Lovelace, die lange Vorbereitung auf ihren Tod und die Sorge um die Zusammenstellung des Bilds, das der Welt von ihr bleiben wird. Dem Protest vor allem jener Leserinnen, die im Anschluß an die Flucht nach Hampstead eine Bekehrung Lovelaces und ein gemeinsames Glück der beiden erhofft hatten, antwortet ein Postscript.

Der Roman greift extensiv und programmatisch auf Elemente der oben in Kapitel II untersuchten Texttypen zurück.2 Er findet diesen vielfältigen Anschluß dadurch, daß er in weit größerer Ausführlichkeit, als dies in den bislang besprochenen Texten der Fall war, ein Netz von Machtbeziehungen dramatisiert, das in der Geschlechtlichkeit von jungen Frauen seinen Kristallisationspunkt findet. Clarissa selbst benennt immer wieder den Problemfokus, über den die Figuren des Romans zueinander in Beziehung stehen:

Can there be a stronger instance in human life than mine has so early furnished [...] of the necessity of the continuance of a watchful parent's care over a daughter [...]?

Is not the space from sixteen to twenty-one that which requires this care, more than any time of a young woman's life? For in that period do we not generally attract the eyes of the other sex, and become the subject of their addresses, and not seldom of their attempts? And is not that the period in which our conduct or misconduct gives us a reputation or disreputation [...] throughout our whole future lives?

Are we not then most in danger from ourselves, because of the distinction with which we are apt to behold particulars of that sex?

And when our dangers multiply, both from within and without, do not our parents know that their vigilance ought to be doubled? (Clarissa 480)

Drei Faktoren finden sich also in der Bedrohung für junge Frauen zusammen. Sie beginnen, das Interesse von Männern zu erregen, werden Gegenstand ihrer Bemühungen und vielleicht sogar ihrer hinterhältigen Anschläge. Zugleich entscheidet das Verhalten der jungen Frau über ihren zukünftigen Ruf und damit über ihre Position in der Gesellschaft. Schließlich — und hier kommt der im Frömmigkeitshandbuch dominante Problemfokus des Fleisches zum Tragen — liegt die Quelle der Gefährdung nicht allein außerhalb, sondern zugleich im Inneren der jungen Frau.

Aus all diesen Faktoren wird in der zitierten Passage die Notwendigkeit der elterlichen Sorge um das Wohl der herangewachsenen Töchter begründet. Es bedarf also einer entsprechenden Einsicht der Töchter in die Notwendigkeit der Fürsorge, aber auch ihrer eigenen wachsamen Umsicht. Die Verführer benötigen ihrerseits ein korrespondierendes Wissen darüber, wie sie gegen die fürsorgliche Abwehr der Eltern und die Vorsicht der Töchter sich die verdeckte Komplizität der letzteren zunutze machen und so zu ihrem Erfolg kommen. Lovelace gibt etwa die folgende Probe dieses Wissens:

Many a girl has been carried, who would never have been attempted had she showed a proper resentment when her ears or eyes were first invaded. I have tried a young creature by a bad book, a light quotation, or an indecent picture; and if she has borne that, or only blushed, and not been angry, and more especially if she has leered and smiled, that girl have I, and old Mulciber, put down for our own. (Clarissa 521)

Solches Wissen über die Bedingungen der Wirksamkeit von Maßnahmen und die möglichen Konsequenzen von bestimmten Verhaltensweisen ist offensichtlich für Verführer, Töchter und Eltern von Bedeutung. Für die umworbene Frau wie für den Bewerber ist es wichtig, die Implikationen jener kleinen Konfrontationen wegen 'leichtsinniger' Äußerungen zu kennen. Das Wissen, das Lovelace hier als Operationsbasis für einen Vorstoß gegen Clarissas Tugend dient, ist ebenso wichtig für Clarissa, wenn sie den Vorstoß abwehren will. So kann Lovelace selbst die Konvertierung seines Verführerwissens in ein Schutzwissen für Frauen in Betracht ziehen3: "Oh how I could warn these little rogues if I would! Perhaps envy, more than virtue, will put me upon setting up beacons for them when I grow old and joyless." (Clarissa 521).

Schon ein Blick auf das Titelblatt des Romans bringt die typische Problematisierungsform des Verhaltensratgebers in den Vordergrund. CLARISSA: or, the History of a Young Lady: Comprehending the most important concerns of private life and particularly showing the distresses that may attend the misconduct both of parents and children, in relation to marriage (Clarissa 33), lautet der vollständige Titel. Zwar wird deutlich, daß eine Geschichte erzählt wird, deren Hauptfigur Clarissa heißt; doch versprochen wird keine Liebesintrige, sondern eine Unterweisung darin, wie man sich bei der Sicherung des sozioreligiösen Rahmens des Geschlechtlichen verhält. Auch im Vorwort wird das Ziel hervorgehoben, auf das Verhalten aller Beteiligten in diesem Bereich einzuwirken:

[...] it is one of the principal views of the publication: to caution parents against the undue exertion of their natural authority over their children in the great article of marriage: and children against preferring a man of pleasure to a man of probity, upon that dangerous but too commonly received notion, that a reformed rake makes the best husband. (Clarissa 36)

Das Problem, das es zu lösen gilt, stammt, wie in der Forschung schon häufiger vermerkt, aus dem Bereich der "Relative Duties of Parents and Children"4, und der Konflikt ist so gewählt, daß keiner der Beteiligten das Recht ganz für sich beanspruchen kann. Der Vater überschreitet in den ersten beiden Bänden die Grenzen, in deren Rahmen sich die elterliche Gewalt halten sollte. Und Clarissa läßt sich, so verständlich dies in ihrer bedrängten Situation ist, doch zu sehr mit Lovelace ein. Sie und mit ihr die Familie, die sie so weit getrieben hat, bezahlen in den Geschehnissen, die sich an ihren fatalen Schritt aus ihres Vaters Haus anschließen, dafür, daß sie einem rake, der Lovelace ja bekannterweise war, überhaupt traute und auf seine Besserung baute.

In Advice to a Daughter war dieser Bereich noch ganz außerhalb der Entscheidungskompetenz der Tochter angesiedelt. In der Whole Duty of a Woman war dagegen gerade in diesem Bereich in besonderem Maße modesty, discretion und watchfulness gefordert worden.5 Schon die Whole Duty of Man hatte Hinweise für das Verhalten im Konfliktfall und eindringliche Mahnungen an alle Beteiligten enthalten, möglichst konsensuell und auf das Glück und das geistliche Wohl des künftigen Paares bedacht vorzugehen, da aus unglücklichen Ehen bleibendes Leid der Ehepartner resultiere.6 Im Unterschied zu all diesen Texten findet die diesbezügliche Unterweisung nun aber nicht im Rahmen einer direkten Wissensvermittlungsrelation zwischen binnentextuellem Sprecher und Leser statt. Das Postscript zitiert vielmehr die Verse, das schon Magister William Beck zur Rechtfertigung seiner Versfassung der Whole Duty of Man anführte: "A verse may find him, who a sermon flies / and turn delight into a sacrifice."7 Es wird also dem Anspruch nach eine Geschichte erzählt, die mit dem Köder der Unterhaltungserwartung den Lesern das rechte Verhalten in Fragen der Eheanbahnung nahebringen soll.

Die Personen dieser Geschichte lassen an das Figurenarsenal der Liebesintrige denken. Clarissa Harlowe und Robert Lovelace sind die jungen Liebenden, auch Clarissas Schwester Arabella liebt Lovelace. Clarissas Familie — der Vater und vor allem der Bruder James — wollen eine Verbindung von Clarissa und Lovelace verhindern. Auch die beiden Onkel Clarissas, die zugunsten ihrer Nichten und ihres Neffen Junggesellen geblieben sind, gehören zu den Liebesgegnern. Mit Mr. Solmes ist auch ein absurder Liebender im Spiel: geizig, häßlich und zu alt8, lassen ihn die Zusicherungen der Familie und die Aussicht auf eine substantielle Mitgift und eine begehrenswerte Frau eine Bewerbung aufrechterhalten, die von seiten der Umworbenen auf strikteste Ablehnung stößt. Allen Beteiligten stehen Erfüllungsgehilfen zur Verfügung, welche häufig die Kanäle bilden, ohne die einzelne Interventionen unmöglich wären. Sie handeln meist nicht eigenständig, sondern kommen eben über die Hilfestellungen, die sie der einen oder anderen an der Auseinandersetzung beteiligten Partei leisten, auf ihre Kosten. Die Entlassung von Clarissas loyaler Dienerin Hannah9 und ihre Ersetzung durch Arabellas Dienerin Betty Barnes bezeugen, wie sehr Hannah von der Familie als Faktor zu Clarissas Gunsten eingestuft wird. James Harlowes Diener Joseph Leman ist in seiner Rolle als Doppelagent für den Gang der Ereignisse von entscheidender Bedeutung. Nach dem Verlassen des Elternhauses sind es dann vor allem die von Lovelace gedungenen Personen, die zur Schaffung von für ihn günstigen Situationen eingesetzt werden.

Clarissa unterscheidet sich allerdings von den Figuren einer Liebesintrige in den Zielen, die sie für sich selbst erstrebt. Sie hat mehr mit der Kompilatorin der Ladies Library gemeinsam als mit Sylvia oder Calista aus Behns Love Letters oder auch mit Charlot aus Manleys New Atalantis. Wenn Lovelace ein Bordell in London zum ehrbaren Haus der Witwe Sinclair transformieren will, so weiß er, mit welchen Lektüren er Clarissas Vertrauen gewinnen wird. "[...] I have [...] sen[t] up a list of books to be procured for the lady's closet, mostly at second-hand" (Clarissa 473), schreibt er an seinen Korrespondenten Belford. Als Clarissa ihre Räume bezieht, stellt sich der erwünschte Effekt ein, wie aus ihrem Bericht an ihre Vertraute Miss Howe hervorgeht:

I have turned over the books I have found in my closet; and am not a little pleased with them; and think the better of the people of the house for their sakes.

Stanhope's Gospels; Sharp's, Tillotson's and South's Sermons; Nelson's Feasts and Fasts; a sacramental piece of the Bishop of Man, and another of Dr Gauden, Bishop of Exeter; and Inett's Devotions; are among the devout books: and among those of a lighter turn, these not ill-chosen ones; a Telemachus in French, another in English; Steele's, Rowe's, and Shakespeare's plays; that genteel comedy of Mr Cibber, The Careless Husband, and others of the same author; Dryden's Miscellanies; the Tatlers, Spectators and Guardians; Pope's, and Swift's and Addison's works. (Clarissa 525 f.)

Mit Predigten und anderer erbaulicher Literatur auf der einen Seite, mit unterhaltenden und geschmacksbildenden Werken der elegantesten Autoren der Zeit auf der anderen, billigt Clarissa eine Zusammenstellung von Texten, die (auch wenn man Pope und Swift hier sicherlich ausnehmen muß) sich zu einer Konzeption weiblicher Subjektivität verbinden, die jener der Ladies Library nicht fern steht.10

Nun handelt es sich bei Clarissa weder um einen Verhaltensratgeber, noch wird eine Liebesintrige erzählt. Die benannten Elemente dieser Modelle sind zwar im Text eingesetzt, doch entsteht insgesamt ein neuer Kontext, in dem die Zentren der Problematisierung von Wissen gegenüber den früheren Texten verschoben sind. Mit den beiden Protagonisten treffen ein Mann, der die Attraktivität und das liebesstrategische Geschick eines Philander aus Behns Love Letters oder eines Protagonisten der Restaurationskomödie besitzt, und eine Frau, die sich am Vorbild der Pflichtkompendien für Frauen orientiert, aufeinander. Die so gefaßte Konfrontation hat Konsequenzen, die in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels zu betrachten sind: Zunächst präsentiert sich der Text als Chronik einer Kontroverse, in der komplexe Interessenlagen ineinandergreifen. Der Bereich, in dem die Auseinandersetzung ausgetragen wird, ist jedoch nicht in erster Linie eine Liebesbeziehung, sondern die Familie; erst nach der Flucht Clarissas aus dem Elternhaus rückt die Konfrontation von Lovelace und Clarissa ins Zentrum, doch bleibt die strategische Situation komplex. Die Konflikte sind — ganz wie dies für die Keuschheitshandlungen des Frömmigkeitshandbuchs festgestellt wurde — Auseinandersetzungen, in denen weniger geschlechtlich gehandelt wird (etwa per Verführung o.ä.11), als daß die Handlungen eine Referenz auf die Geschlechtlichkeit aufweisen. Sie bringen auf diese Weise die Wahrheit des Geschlechts und der Leidenschaften einerseits sowie des Subjekts andererseits ins Spiel.

Die vorliegende Analyse setzt also zunächst bei denselben Textcharakteristika an wie Warner (1979), der im Konflikt das zentrale Moment des Romans erblickt und Clarissas Charakter als Funktion dieser Kämpfe ansieht.12 Doch erkennt Warner aus dekonstruktivistischer Perspektive im Konflikt etwas, das die Wahrheit unmöglich macht und was jede Wahrheit, will sie sich behaupten, demnach verdrängen muß. Er sucht Clarissas Willen zur Tugend und zur Integrität als Maskierung eines Willens zur Macht zu entlarven, den die Figur des Lovelace offen und spielerisch verkörpere. Er interpretiert Richardsons Eingriffe in die folgenden Auflagen des Romans als immer wieder zum Scheitern verurteilte Versuche, die Verkleidung des Willens zur Macht als Tugend zu perfektionieren.13 Er identifiziert sich schließlich mit der Haltung Lovelaces14 und erhebt Einspruch gegen 'humanistische' Forschungspositionen, die die Bestrebungen Clarissas und Richardsons und damit das Geschäft der maskierenden Verdrängung des Willens zur Macht fortsetzten.

Clarissa und Lovelace sind also als zwei konträre Prinzipien aufgefaßt, zwischen denen sich die Interpretation entscheiden muß. Die Forschung der achtziger Jahre hat vielfachen Anstoß an Warners Provokation genommen, hat aber weiterhin die begriffliche Polarisierung von Clarissa und Lovelace akzeptiert, wobei nun eine feministisch-emanzipatorische Komponente der Protagonistin hervorgehoben wurde.15

Statt jedoch in Clarissa und Lovelace die Verkörperung gegensätzlicher Begriffe (moralische Integrität vs. Machtbesessenheit, bürgerliche vs. aristokratische oder feministische vs. patriarchale Einstellungen) zu erblicken, ist das Verhältnis der beiden Protagonisten im Kontext des spezifischenEinsatzes von Wissen, dessen Herkunft die vorhergehenden Kapitel umrissen haben, zu charakterisieren. Wenn Clarissa und Lovelace dann mit ähnlichen oder unterschiedlichen Formen der Problematisierung in Verbindung zu bringen sind, so nicht, weil sie diese repräsentierten, sondern weil diese im Text von ihnen oder in bezug auf sie eingesetzt werden.

An Warners Ausführungen zur Rolle von Clarissas Herz im Text, das er als den ruhenden Pol ihrer Selbsttransparenz konstruiert, um ihn zu dekonstruieren, läßt sich die entscheidende Abgrenzung gegen seinem Ansatz vornehmen. Er schreibt: "Clarissas heart is like the small chapel at the center of a great fortress. No matter how violently the battle rages outside, she can win refreshment by returning to her heart and contemplating her own self-present virtue." (Warner 1979: 18). Die folgenden Analysen werden sich um den Nachweis bemühen, daß es im Text nicht vor allem um die Konstruktion eines autonomen und sich selbst präsenten Subjekts16 geht, sondern daß der Roman vielmehr gerade das Dilemmatisch-Problematische der Subjektivität im Zeichen der Geschlechtlichkeit auslotet. Clarissas Herz ist im Text nicht als jener ruhende Pol der Selbsttransparenz gezeichnet, als den Warner es sieht, sondern es ist selbst das umkämpfte Feld der Auseinandersetzung, an dem alle am Konflikt Beteiligten ansetzen. Es ist zugleich auch ein Ort, den Clarissa bis zuletzt nicht recht kennt.

So gilt es in der Tat zunächst, die strategische Dimension des Textes herauszuarbeiten: die Weisen, wie die einzelnen Figuren sich als Subjekte sehen, die durch geschicktes Verhalten Vorteile erringen und Nachteile vermeiden können. In diesem Kontext hat dann die Wahrheit ihre spezifische Rolle, entfaltet sie ihre je besonderen Wirkungen. Dabei ist die Frage nach der Wahrheit über das weibliche Geschlecht von der Frage nach den wahren Empfindungen Clarissas für Lovelace zu unterscheiden. Die Kontroverse um die Wahrheit des Geschlechts entsteht daraus, daß Lovelace ein traditionell für die Liebesintrige charakteristisches strategisches Wissen über die Natur der Frau seinen Handlungen zugrunde legt, das seine Gültigkeit einbüßt, wenn es auf Clarissas am Vorbild der Frömmigkeitshandbücher und der Pflichtkompendien für Frauen orientierte Keuschheit trifft. Ein Wissen über das Wesen der Frau wird so durch ein anderes ersetzt. Die Frage nach dem Zustand von Clarissas Herz erweist sich gerade durch die Unsicherheit ihrer Beantwortung als der Ansatzpunkt für eine Vielzahl von Verfahren, die diese Wahrheit ermitteln wollen und die miteinander konkurrieren. Clarissa steht einerseits unter einem permanenten Gebot, die Wahrheit über den Zustand ihres Herzens zu sagen, hat aber andererseits, wie der Text durch alternative Interpretationsverfahren deutlich macht, zu dieser Wahrheit keinen vollen und sicheren Zugang. Die Geschlechtlichkeit ist am Ende jenes identitätskonstituierende Element des Subjekts, das zugleich dessen Selbsttransparenz untergräbt.17 Daß nicht allein in der mangelnden Erkennbarkeit des Geschlechtlichen, sondern in der Vielzahl der konfligierenden Verfahren zur Ermittlung von Wissen das Spezifikum des Romans zu erblicken ist, soll am Ende der kontrastierende Vergleich mit einer Episode aus Manleys New Atalantis zeigen.


  1. Ich beziehe mich auf die Bandeinteilung der Erstausgabe in sieben Bänden (genaue Angaben s. Clarissa 1512) und zitiere Clarissa nach der auf der Erstausgabe von 1747-8 basierenden Penguin-Ausgabe (Harmondsworth 1985).
  2. Die Forschung hat Richardsons Rückgriffe auf Verhaltensratgeber und Frömmigkeitshandbuch schon früh erkannt (vgl. etwa Hornbeak 1937). Generell sieht man hierin im Anschluß an Ian Watt eine Aufnahme puritanischer Modelle (vgl. Wolff 1972 und Goldberg 1984). - Margaret A. Doody kontrastiert den Verlauf der Geschichte mit "earlier novels of love and seduction" (vgl. Doody 1974: 128 ff.) und diskutiert die Tragödie der Restauration und ihre Helden als Vorbild für Lovelace und die von ihm vertretene Liebeskonzeption (vgl. Doody 1974: 99-127, bes. 107 ff.).
  3. Dies wurde schon in der Einführung hervorgehoben (vgl. oben S. 28 ff.).
  4. So der Titel einer Schrift von Thomas Gouge aus dem Jahre 1705; Vgl. etwa Wolff (1972), p. 74 ff., bes. p. 77; sowie, wenig konzis, Goldberg (1984), p. 24 ff.
  5. Vgl. Whole Duty of a Woman 1695: 49 f. und oben S. 99.
  6. Vgl. oben S. 79 f.
  7. Vgl. Beck 1700: 5 und oben S. 95; Bei Richardson findet sich das Zitat allerdings noch nicht im Postscript der Erstausgabe, sondern in dem wesentlich erweiterten Postscript der dritten Auflage von 1751; vgl. The Novels of Samuel Richardson: The History of Clarissa Harlowe, vol. 8, London 1902, p. 344.
  8. Vgl. Clarissa 56.
  9. Vgl. Clarissa 119 f.
  10. Steele hat unter diesen Autoren durchaus seinen Platz, während die Verfasserin der New Atalantis fehlt.
  11. Ausnahme ist selbstverständlich die Vergewaltigung, doch erlebt Clarissa sie nicht bewußt; für Lovelace ist sie aber in der Tat vor allem ein Mittel, um die strategische Situation zu modifizieren, auch wenn sie eine andere als die angestrebte Wirkung zeitigt; vgl. unten S. 190 ff.
  12. "Struggle is the pervasive and continuous reality of Richardson's novel Clarissa. Struggles between Clarissa and her family and Clarissa and Lovelace trigger the alibis and interpretations, the feints and representations that become the substance of the novel. Every word and sentence is a new move in this unremitting struggle, where prolixity and repetition become evidence that the energies of these struggles are undissipated. At no point in this novel can we get outside this struggle, above the turmoil and din, to a neutral place where we could take fine pictures and know things for what they are." (Warner 1979: 3)
  13. Richardsons Veränderungen von der ersten zur dritten Auflage hatten zuvor schon Kinkead-Weekes (1959) und Barker (1970) untersucht.
  14. Lovelace wird zu der Figur, in der die Textwirklichkeit zu sich selbst kommt, zur Verkörperung der Derridaschen différance (vgl. Warner 1979: 32 und 54).
  15. Terry Castle (1982) tut dies aus rezeptionsästhetischer Sicht, Terry Eagleton (1982) auf der Basis einer charakteristischen Kombination aus poststrukturalistischen, psychoanalytischen und marxistischen Konzepten. Rita Goldberg entscheidet sich besonders vehement für das, was sie als das 'Prinzip Clarissa' erkennt: "Clarissa may [...] be looked upon, with reason, as the perpetual victim, the unjustly accused political prisoner in a male world where rapists and the rapacious alike go free. Clarissas crime, if it could be called such, is her unwillingness to go against an inner principle of wholeness" (Goldberg 1984: 101).
  16. Gegen Clarissa richtet sich in Passagen wie der eben zitierten, vor allem in den Begriffen "center" und "self-present virtue", die Wucht einer dekonstruktivistischen Polemik, die sich als Entlarvung einer jahrtausendealten platonisierenden Metaphysik der Zentriertheit und Selbstpräsenz des Subjekts versteht. Den antimetaphysischen Komplementärimpuls identifiziert Warner wie schon erwähnt mit der Figur des Lovelace.
  17. Daß Julie, die Protagonistin von Rousseaus Nouvelle Héloïse, eine ähnlich beeinträchtigte Selbsttransparenz aufweist, hat Rainer Warning (1992) hervorgehoben. Für Warning, darauf wurde bereits oben S. 50 verwiesen, ist diese Inszenierung von Opazität allerdings das Charakteristikum, mit dem sich eine literarische Diskursivierung von Sexualität von derjenigen in nicht-fiktionalen Texten unterscheiden läßt. Die folgende Interpretation von Clarissa wird Opazität nicht als den Gegenpol der Volonté de savoir, sondern als deren konkomitantes Phänomen zu erweisen suchen.