Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Das Wesen der Frau und die Wahrheit der Geschlechter

Das Wesen der Geschlechter und der daraus resultierende Unterschied zwischen den Geschlechtern spielen in Clarissa eine bedeutende Rolle. Die geschlechtsspezifischen Merkmale gründen dabei noch nicht im physischen Geschlecht als der Wahrheit der Person.1 Die Zuweisung von geschlechtlich markierten Merkmalen an Personen anderen Geschlechts ruft also noch nicht die Frage auf den Plan, was nun die 'wahre sexuelle Identität' dieser Person sei. 'Mann' und 'Frau' sind noch nicht die Komplexe von physischen und psychischen Merkmalen, die die Identität jedes Menschen begründen.

Während also keine Konflikte über die wahre sexuelle Identität von Personen entstehen können, wird das Geschlechtliche trotzdem unter dem Aspekt der Wahrheit kontrovers: nämlich in Form einer Konfrontation der Weiblichkeitskonzeptionen, die für den Liebesroman einerseits, für die Pflichtkompendien für Frauen und die Ladies Library andererseits typisch sind. Die Frage, ob Clarissa wirklich eine Frau sei, wird auf der Basis eines strategischen Wissens über das Wesen der Frau gestellt, und an Clarissas Weiblichkeit, an ihrer wahren Keuschheit, büßt dieses Wissen seine Gültigkeit ein.

Geschlechtsspezifische Charakteristika

Die Zuweisung von geschlechtlich markierten Merkmalen in Clarissa gehorcht einer Ökonomie, die nicht an das physische Geschlecht der Personen gebunden ist. Geschlechtsspezifische Charakteristika sind in erster Linie Verhaltensmerkmale.

Im Zentrum der Problematisierung steht das weibliche Geschlecht. Die generelle Misogynie der männlichen Harlowes, vor allem des Vaters und des Onkels Antony, festigt immer wieder die Entschlossenheit der männlichen Familienmitglieder, sich gegen Clarissa ganz durchzusetzen. So schreibt ihr Onkel Antony: "The devil's in your sex! God forgive me for saying so — The nicest of them will prefer a vile rake [...] I had not been a bachelor to this time, if I had not seen such a mass of contradictions in you all [...]" (Clarissa 154).

Clarissa stellt andere Zusammenhänge zwischen ihrer spezifischen Situation und der Geschlechtszugehörigkeit der Beteiligten her, wenn sie Ohrenzeugin der Auseinandersetzungen im Familienrat wird:

[...] I heard a confused mixture of voices, some louder than others, drowning, as it seemed, the more compassionating accents.

Female accents I could distinguish the drowned ones to be. Oh my dear! what a hard-hearted sex is the other! Children of the same parents, how came they by their cruelty? — Do they get it by travel? Do they get it by conversation with one another? — [...] Yet my sister too is as hard-hearted as any of them. But this may be no exception neither: for she has been thought to be masculine in her air, and in her spirit. She has then, perhaps, a soul of the other sex in a body of ours. And so, for the honour of our own, will I judge of every woman for the future who, imitating the rougher manners of men, acts unbeseeming the gentleness of her own sex. (Clarissa 309 f.)

Weiblich ist also das Mitgefühl, männlich die Hartherzigkeit; rauh sind die Männer, sanft die Frauen. Clarissa führt verschiedene mögliche Erklärungen an: Individuelle Vererbung und die Bedingungen im Elternhaus scheiden aus; das Reisen oder der Umgang mit anderen Männern werden als Möglichkeiten angerissen, doch diese soziokulturellen Gründe können nicht die entscheidenden sein, denn auch wo sie nicht zutreffen, findet sich Hartherzigkeit. Dies beweist der Fall ihrer Schwester Bella, bei der nicht einmal das physische Geschlecht zur Begründung hinreicht. Diese hat ja auch sonst eine maskuline Art, und es mag also eine männliche Seele ihren weiblichen Körper erfüllen, und so doch der Schluß erlaubt sein, daß unabhängig vom körperlichen Geschlecht das seelische Geschlecht eines Menschen auch seine charakterliche Essenz bestimmt.

In diesem Sinne unterscheidet auch Miss Howe zwischen männlichen und weiblichen Qualitäten einerseits und dem Geschlecht der Person andererseits, wenn sie die Wahl einer Ehefrau diskutiert.

[...] were I [...] a man who loved my quiet, I would not have one of these managing wives on any consideration. I would make it a matter of serious inquiry beforehand, whether my mistress's qualifications [...] were masculine or feminine ones. (Clarissa 475)

Die Information darüber, ob die potentielle Braut tendenziell weibliche oder männliche Eigenschaften hat, hat vor allem Aussagewert hinsichtlich der Qualität des zukünftigen Zusammenlebens. Wird die Frau sich in die Aufgaben des Mannes einmischen oder sich mit den ihr traditionell zufallenden begnügen? Zwei potentiell konfligierende Prinzipien der Geschlechtsmarkierung (physisches Geschlecht der Person vs. Geschlecht von Charakterzügen) wirken hier nebeneinander, ohne daß zwischen beiden gewählt werden müßte, ohne daß sich das eine gegen das andere Prinzip durchsetzen müßte. Mischen sich die Geschlechter in einer Person — der maskulinen Frau — so wird das Ergebnis nicht als Perversion diagnostiziert, sondern als "not [...] a pretty character at all" (Clarissa 476). Das Problem der konfligierenden Geschlechtszuweisungen ist mithin noch kein psychosexuelles, sondern ein soziales. Es gibt in diesem sozialen Kontext eine ideale Heterosexualität der charakterlichen Eigenschaften, die in gewisser Hinsicht die Qualität des Zusammenlebens regiert.

Die ideale Komplementarität in der Verteilung der geschlechtsmarkierten Charakterzüge, die indessen gerade nicht an das Geschlecht der gesamten Person gebunden scheint, unterstreicht auch Lovelace, wenn er über Clarissa und Miss Howe an Belford schreibt:

Thus much indeed, as to these two ladies, I will grant thee; that the active spirit of the one, and the meek disposition of the other, may make their friendship more durable than it would otherwise be; for this is certain, that in every friendship, whether male or female, there must be a man and a woman spirit (that is to say, one of them a forbearing one) to make it permanent. (Clarissa 863 f.)

Die sexuelle Binarität kann ein semantisches Universum organisieren, ohne sich am körperlichen Geschlecht der Personen, die in Beziehung zueinander treten, zu reiben.

Aus diesem Grund kann Lovelace sich auch weibliche Qualitäten zuschreiben und auf dieser Erfahrungsbasis eine privilegierte Einsicht in die Motivationen von Frauen für sich in Anspruch zu nehmen. Seine ursprüngliche Schamhaftigkeit etwa hat ihn nicht daran gehindert, mit dem anderen Geschlecht überhaupt in Kontakt zu treten, sondern hat ihm im Gegenteil eine intimere Kenntnis der Frauen beschert, als eine ausschließlich männliche Seele sie ermöglichen würde:

[...] I was originally a bashful whelp — [...] bashful, yet know the sex so well! — But that indeed is the reason that I know it so well — for, Jack, I have had abundant cause, when I have looked into myself, by way of comparison with the other sex, to conclude that a bashful man has a good deal of the soul of a woman; and so, like Tiresias, can tell what they think and what they drive at, as well as themselves. (Clarissa 440 f.)

In der Tat, Lovelaces spielerische Feminisierung2 bringt ihn nicht etwa in Konflikt mit einer als Identitätsbasis verstandenen Männlichkeit; eine solche Basis existiert offensichtlich noch gar nicht als Konzept.3 Es stellt sich nicht etwa die Frage, ob er 'in Wahrheit eine Frau' sei, oder welche besondere Persönlichkeitsstruktur dazu führt, daß er die gegengeschlechtliche Identifikation sucht. All diese Fragen liegen noch in der Zukunft des Sexualitätsdispositivs. Lovelaces feminine Aspekte stehen im Kontext seiner Suche nach Erkenntnissen über die Frauen: "why should it be thought strange", fragt er, "that I, who love them so dearly, and study them so much, should catch the infection of them?" (Clarissa 790).

Das feminine Einfühlungsvermögen ist mit einem Wissen verbunden, das das strategische Verhalten von Frauen in Liebesangelegenheiten betrifft. Es ist zugleich die Grundlage für Lovelaces Vorgehen gegenüber Clarissa. Er wird aber auf eine Frau stoßen, die der strategischen Problematisierung von Leidenschaften und Geschlecht den Rücken gekehrt hat und sein Wissen zuschanden werden läßt.

"The history of the Lady and the Penknife": Das Ende der Gültigkeit des strategischen Wissens über das Wesen der Frau

Lovelace sucht immer wieder Rechtfertigung und Stabilisierung seiner Position im Rekurs auf kulturell vordefinierte Rollen, die ein bestimmtes Verhalten für ihn erforderlich erscheinen lassen ("What a figure should I make in rakish annals, if at last I should be caught in my own gin?", Clarissa 671). Er beruft sich auf eine kulturell vorgegebene Liebestopik, die Betrug aus Leidenschaft entschuldigt: "As to the manner of endeavouring to obtain her, by falsification of oaths, vows, and the like — do not the poets of two thousand years and upwards tell us that Jupiter laughs at the perjuries of lovers?" (Clarissa 847). Immer wieder bezieht er sich auch mit Stolz auf ein Wissen über Frauen, das essentiell ein strategisches Wissen darüber ist, wie man sich Vorteile in einer Liebesintrige verschafft. Die Art, wie er eine heimliche Korrespondenz mit Clarissa unterhält, zeigt ihn beispielsweise ebenso geschickt wie erfolgreich.

Dieses Wissen leitet ihn nun auch bei seinen Versuchen, Clarissa zu einem life of honour zu bewegen. Ganz wie der Herzog in Manleys New Atalantis geht er davon aus, daß anfänglicher Widerstand gegen eine geschlechtliche Annäherung nur natürlich sei, und daß es gelte, diesen Widerstand zu umgehen oder zu brechen. Wenn man dergestalt vollendete Tatsachen schaffe, folge meist die Einwilligung in das zunächst Abgelehnte nachträglich.4

I doubt not but I shall meet with difficulty. I must therefore make my first effort by surprise. There may possibly be some cruelty necessary. But there may be consent in struggle; there may be yielding in resistance. But the first conflict over, whether the following may not be weaker and weaker, till willingness follow, is the point to be tried. (Clarissa 557)

Die geheime Komplizität der Vergewaltigten, ihre allmähliche Einwilligung in das, was zunächst gegen ihren Willen mit ihr geschieht, ist der Faktor, den Lovelace in der Natur der Frau verankert sieht und auf den sein Vorgehen sich stützt. Und Lovelaces Erfahrung zeigt, daß die Prämisse meist zutrifft: "We begin with birds as boys, and as men go on to ladies; and both perhaps, in turns, experience our sportive cruelty", schreibt er und fährt fort: "I have known a bird actually starve itself, and die with grief, at its being caught and caged — But never did I meet with a lady who was so silly" (Clarissa 557).

Doch in der Konfrontation mit Clarissa stößt Lovelaces Wissen an seine Grenzen: "this lady is a rebel to love" (Clarissa 610), sagt er über sie und meint damit, daß sie dem etablierten Wissen über das Verhalten von Frauen in Liebesdingen nicht entsprechen will. Nun wählt Lovelace nicht den Weg, sein Wissen zu modifizieren und es der neuen Lage anzupassen. Eher stellt er sich die Frage, ob Clarissa zugleich so handeln und eine Frau sein kann.

[...] the moment I beheld her, my heart was dastardized, damped and reverenced-over. Surely this is an angel, Jack! — And yet, had she not been known to be female, they would not from babyhood have dressed her as such, nor would she, but upon that conviction, have continued the dress. (Clarissa 642)

So gerät Lovelaces Beziehung mit Clarissa zu einer Serie von Experimenten, die erweisen sollen, ob es nicht doch einen Punkt gibt, an dem sein Wissen wieder die Geltung hätte, die es in seinen früheren Beziehungen zu Frauen hatte. Dabei schwankt er zwischen Zweifeln angesichts von Clarissas Reaktion ("I never before encountered a resistance so much in earnest", Clarissa 727) und Vertrauen auf die letztliche Verläßlichkeit seiner Erfahrung.

Das letzte Mittel dieser Erprobung ist die Vergewaltigung:

Abhorred be force! — be the thoughts of force! There's no triumph over the will in force! This I know I have said. But would I not have avoided it if I could? — Have I not tried every other method? And have I any other recourse left me? Can she resent the last outrage more than she has resented a fainter effort? — [...] She will not refuse me, I know, Jack; the haughty beauty will not refuse me, when her pride of being corporally inviolate is brought down; when she can tell no tales, but when (be her resistance what it will) even her own sex will suspect a yielding in resistance; and when that modesty, which may fill her bosom with resentment, will lock up her speech. (Clarissa 879)

Doch nicht als das nun dem Täter ausgelieferte Opfer, dessen Scham auf die Diskretion des Vergewaltigers hoffen muß, sondern in der Erhabenheit des unschuldigen Opfers einer Freveltat tritt Clarissa ihm entgegen. Lovelace ist erschüttert:

[...] my whole frame was shaken: for not only her looks, and her action, but her voice, so solemn, was inexpressibly affecting: and then my cursed guilt, and her innocence and merit, and rank, and superiority of talents, all stared me at that instant in the face so formidably, that my present account, to which she unexpectedly called me, seemed, as I then thought, to resemble that general one to which we are told we shall be summoned, when our conscience shall be our accuser. (Clarissa 899 f.)

Obwohl ihn Clarissas Integrität schon an das Jüngste Gericht gemahnt, ist Lovelace noch nicht bereit, das Ende der Gültigkeit seines Wissens zuzugestehen.5 Wenn seine Zweifel zunehmen, übernehmen die "women below" die Rolle von Garanten eines Wissens über die Natur der Frau, das sein weiteres Vorgehen abdeckt. Als frühere Opfer Lovelaces, als lebende Beweise für seinen Erfolg bestärken sie ihn in seinem Wissen: "[...] they pretend to know their own sex. [...] they all pretend to remember what once they were; and vouch for the inclinations and hypocrisy of the whole sex [...]" (Clarissa 940).

Lovelace unternimmt mit dem Zuspruch der "women below" einen letzten Versuch6, die Wahrheit seines Wissens zu erweisen: Den Fehlschlag der Vergewaltigung sieht er als Folge von Clarissas Bewußtlosigkeit an, die ihr die Schuld des bewußten — wenn auch passiven und erzwungenen — Erlebens eines Geschlechtsverkehrs erspart habe; eine wiederholte Vergewaltigung, diesmal bei Clarissas vollem Bewußtsein, muß die ersehnte Wendung der Lage bringen. Lovelace nähert sich ihr wütend und entschlossen, doch Clarissa übertrifft ihn an Entschlossenheit: "she held forth a penknife in her hand, the point to her own bosom", und sie versichert: "I dare die. It is in defence of my honour" (Clarissa 950). Daß Clarissa entschlossen ist, sich eher selbst zu töten als eine Vergewaltigung zu erleben, überwindet selbst die "women below": "The mother twanged her damned nose; and Sally and Polly pulled out their handkerchiefs, and turned from us" (Clarissa 951). In Lovelaces Scheitern an Clarissa verweigert der Roman dem als traditionell und allgemein anerkannt ausgewiesenen strategischen Wissen über die Natur der Frau die Einlösung.7


  1. Daß eine solche physiologische Fundierung des Geschlechtsunterschieds erst im 19. Jahrhundert vorliegt und daß zuvor die 'kulturellen' geschlechtlichen Merkmalszuweisungen ( gender) nicht an die Sexualphysiologie gebunden waren, hat Laqueur (1990) nachgewiesen.
  2. Zu Lovelaces femininen Aspekten vgl. a. Clarissa 818.
  3. Die anscheinend so verweiblichten Figuren der späteren Empfindsamkeit dürften vor diesem Hintergrund nicht als Phänomene eines unerklärlichen oder zumindest bemerkenswerten Verlusts an Männlichkeit betrachtet werden, sondern werden in dieser Form erst durch die beginnende Herausbildung einer männlichen sexuellen Identität ermöglicht. In den sechziger Jahren wäre eine Figur mit den geschlechtsübergreifenden Merkmalen eines Lovelace schon an die Seite eines Yorick oder Harley zu stellen. - Zum Wandel des Bilds der Männlichkeit als Basis einer veränderten Einstellung zu geschlechtlichen Kontakten zwischen Männern im Drama und im Theaterbetrieb von der Restauration bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vgl. die Arbeit von Senelick (1990).
  4. Das Verhalten von Charlot nach ihrer Vergewaltigung bestätigt, wie erwähnt, die Erwartung des Herzogs (vgl. Manley, Atalantis 40).
  5. Als weitere Variante soll eine Schwangerschaft, die Lovelace als Folge der Vergewaltigung erhofft, das Wissen Lovelaces vindizieren: "[...] I should not doubt to have her still [...] on my own conditions: nor should I, if it were so, question that revived affection in her which a woman seldom fails to have for the father of her first child, whether born in wedlock or out of it" ( Clarissa 916 f.).
  6. Vgl. Clarissa 946 ff.
  7. Barbara Vinken (1991) hat schon konstatiert, daß es Lovelace nicht so sehr um Liebesgenuß, sondern um die Wahrheit über das weibliche Geschlecht gehe: "Die Wahrheit ist für Lovelace und Richardson nichts als die Wahrheit des begehrlichen weiblichen Fleisches, eine Wahrheit, die den Frauen mühsam abgerungen werden muß, da sie alles daran setzen, diese Wahrheit zu verstecken, zu verbergen, zu verleugnen" (Vinken 1991: 73). Nach den hier vorgetragenen Analysen will es allerdings scheinen, als sei Lovelace nicht von vorneherein der Exponent einer christlichen Hermeneutik des Fleisches. Die Frage nach der Wahrheit, die die Frau als den verborgenen Kern ihres Geschlechts enthält, wird nicht von Lovelace ins Spiel gebracht, sondern sie entsteht aus der Konfrontation von Lovelaces strategischen Annahmen über das Verhalten von Frauen mit Clarissas aktiver Keuschheit.