Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Clarissa spricht die Wahrheit über ihr Herz

In den vorausgegangenen beiden Abschnitten wurde Clarissa erkennbar als Subjekt taktischen Handelns in einem komplexen Netz von Faktoren, die ihre Position bestimmen. Ebenso erwies sich Clarissa als unüberwindliche Trägerin einer neuen weiblichen Subjektivität, die die alte strategische Problematisierung des Geschlechtlichen ihrer Gültigkeit beraubt und mit Keuschheitshandlungen (der angedrohte Selbstmord ist nur die drastischste dieser Handlungen mit Referenz auf das Geschlechtliche) den Anspruch auf charakterliche, moralische und intellektuelle Integrität kombiniert. In ihrem Verhältnis zu Lovelace ist Clarissa aber auch das Subjekt eines Traums vom Glück, der sie in ihr Unglück laufen läßt und den Lovelace bitter kommentiert:

[...] if such a lady as Miss Harlowe chose to enter into the matrimonial state [...] and [...] to go on contributing to get sons and daughters with no other view than to bring them up piously, and to be good and useful members of the commonwealth, what a devil had she to do to let her fancy run a gadding after a rake? One whom she knew to be a rake?

Oh but truly, she hoped to have the merit of reclaiming him. She had formed pretty notions how charmingly it would look to have a penitent of her own making dangling at her side to church, through an applauding neighbourhood [...] (Clarissa 970)

Die Frage nach der Motivation Clarissas, mit der Lovelace in vorübergehendem Trotz seine Schuld an der Entwicklung minimieren will, ist zentral für den Text. Welche Gefühle hegt Clarissa in der Tat für Lovelace, und welchen Stellenwert haben diese Gefühle und ihre Erkennbarkeit für Clarissas Identität?

Nicht erst in der Rückschau und nicht nur von Lovelace, sondern von allen Personen, zu denen sie in einer Beziehung steht, werden Clarissa diese Fragen gestellt. Clarissa ist beständig in einer Bekenntnissituation, in der sie gehalten ist, die Wahrheit über den Zustand ihres Herzens auszusagen. Sie ist zugleich, dies wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels zu diskutierten sein, der Gegenstand von komplementären Interpretationsverfahren, die diese Wahrheit zu ermitteln suchen. Dabei sind weder das Bekenntnis noch die anderen Ermittlungsverfahren mit der Wahrheit gleichzusetzen, auf die sie zielen; es handelt sich jeweils um Verfahren, die bestimmte Aussagen mit dem Merkmal 'wahr' versehen und damit sowohl die Wirkungen dieser Aussagen als auch eventuell die Wirkungen anderer Aussagen, die ebenfalls das Merkmal 'wahr' tragen, modifizieren.

Lovelace und die Wahrheit über Clarissas Herz

Lovelaces Sorge gilt schon früh der Natur der Gefühle, die Clarissa für ihn empfindet. Hier liegt der entscheidende Unsicherheitsfaktor für den Erfolg seiner Pläne: "All my fear arises from the little hold I have in the heart of this charming frost-piece [...]" (Clarissa 145). Diese Unsicherheit dauert noch an, als Clarissa und Lovelace schon in London bei der vermeintlichen Witwe Sinclair logieren. Während Belford der Ansicht ist, Clarissas Liebe zu Lovelace sei deutlich zu erkennen, hat Lovelace weiterhin Zweifel:

[...] that she loves me, as thou imaginest, by no means appears clear to me [...]

As to what thou inferrest from her eye when with us, thou knowest nothing of her heart from that, if thou imaginest there was one glance of love shot from it. (Clarissa 558)

Um diese Zweifel zu beseitigen, unterwirft er Clarissa einem Test, indem er mit Hilfe von "ipecacuanha" (Clarissa 676) bei sich einen mysteriösen Krankheitsanfall inszeniert. Clarissas Reaktion auf seine selbstinduzierte Krankheit bringt in ihrer Besorgnis um Lovelace ihre Liebe zu ihm an den Tag. Lovelace berichtet: "I have gained my end. I see the dear soul loves me. I see she forgives me all that's past." (Clarissa 677) und fügt hinzu: "Everyone now is sure that she loves me. Tears were in her eyes more than once for me" (Clarissa 678).

Auf dieser Grundlage kann Lovelace versuchen, Clarissa zu einem expliziten Bekenntnis ihrer Liebe zu bewegen. Eine Heirat ist ja in Aussicht genommen, und Lovelace geht es nun darum, diese Heirat möglichst unbegrenzt aufzuschieben, um sein eigentlich angestrebtes life of honour mit Clarissa zu führen. Clarissa verweigert eben deshalb ein Bekenntnis; sie verweigert sich Lovelaces Forderung, denn das Verhältnis der beiden ist immer noch so, daß ein solches Bekenntnis in ihm keinen Platz hat: "I have brought her to own that I am more than indifferent with her: but as to love, which I pressed her to acknowledge, What need of acknowledgments of that sort, when a woman consents to marry?" (Clarissa 702). Clarissas Bekenntnis wird im Rahmen einer Konstellation eingefordert, die sich je nach dem Gehalt dieses Bekenntnisses modifiziert. Sowohl Lovelace als auch Clarissa sind sich dieser situationsgestaltenden Rolle des Bekenntnisses bewußt: Lovelace fordert, und Clarissa verweigert es eben aus diesem Grund.

Es ist immer wieder die Konsequenz eines Liebesbekenntnisses für ihre Stellung gegenüber Lovelace, die sie bestimmt, ihr Gefühl nicht auszusprechen:

[...] it was evident to me [...] that she had still some tenderness for me.

She often wept as we talked, and much oftener sighed. She looked at me twice with an eye of undoubted gentleness, and three times with an eye tending to compassion and softness: but its benign rays were as often snatched back, as I may say, and her face averted, as if her sweet eye were not to be trusted, and could not stand against my eager eyes; seeking, as they did, for a lost heart in hers, and endeavouring to penetrate to her very soul. (Clarissa 851)

Clarissas Kontrolle des Ausdrucks ihrer Neigung ist ein Erfordernis ihres Widerstands gegen den von ihr nicht autorisierten Zugriff auf ihr Inneres ("eager eyes [...] endeavouring to penetrate [...]")1, der dieses Innere ihrer Verfügung entziehen würde. Gegenüber einem Dritten macht Clarissa in einer Rechtfertigung ihrer Zurückhaltung klar, daß sie damit nicht die Existenz ihrer Neigung leugnet; sie widersetzt sich lediglich den Folgen, die ein Aussagen dieses Gefühls in einem bestimmten Kontext nach sich ziehen würde:

[...] There is not a creature of my sex, who would have been more explicit, and more frank, than I would have been, from the moment I intended to be his, had I had a heart like my own to deal with. I was always above reserve, sir, I will presume to say, where I had no cause of doubt. Mr Lovelace's conduct has made me appear, perhaps, over-nice, when my heart wanted to be encouraged and assured; and when, if it had been so, my whole behaviour would have been governed by it. (Clarissa 842 f.)

Clarissa verweigerte sich der Offenheit, da diese eines gesicherten Vertrauensverhältnisses bedarf, was ihr Verhältnis zu Lovelace zu keinem Zeitpunkt war.

Das Bekenntnis ist also nicht einfach mit der Wahrheit, die es aussagt, gleichzusetzen; entscheidend ist, daß in der Form des Bekenntnisses eine als wahr markierte Aussage in Umlauf gerät und ihre Wirkungen entfalten kann.

Die Familie und die Wahrheit des Herzens

Die strategische Situation innerhalb der Familie Harlowe unterscheidet sich grundlegend von jener im Haus der vermeintlichen Witwe Sinclair. Clarissa reflektiert dies in einer Überlegung, die ausgeht von der löblichen Qualität der "steadiness of mind", die Clarissas geistlicher Mentor Dr. Lewin besonders hervorzuheben pflegte. Unter welchen Bedingungen wird die Auseinandersetzung um Clarissas Partnerwahl stattfinden?

[...] I dread, I exceedingly dread, the conflicts I know I must encounter with. It is possible that I may be more unhappy from the due observation of the good doctor's general precept [i.e. steadiness of mind, A.K.], than were I to yield the point; since what I call steadiness is attributed to stubbornness, to obstinacy, to prepossession, by those who have a right to put what interpretation they please upon my conduct. (Clarissa 106)

Clarissa steht also hier im Widerspruch gegen eine Instanz, die zugleich das Recht hat, die Bedeutung ihres Verhaltens festzulegen.

Das gleiche Recht nimmt sich die Familie auch hinsichtlich der Bekenntnisse Clarissas über den Zustand ihres Herzens, welche sie ebenfalls einzufordern berechtigt ist. Bekenntnisforderung und Interpretationsberechtigung spielen einen wichtige Rolle in den Strategien und Gegenstrategien im Familienkonflikt. In der folgenden Passage gibt Clarissas Mutter im Gespräch mit Clarissa eine Zusammenfassung der Aussagen des Vaters:

'That neither for my sake, nor his own, could my father labour under a suspense so affecting to his repose; that he had even thought fit to acquaint her, on her pleading for me, that it became her, as she valued her own peace (how harsh to such a wife!), and as she wished that he should not suspect that she secretly favoured the address of a vile rake [...], to exert her authority over me; and that this she might the less scrupulously do, as I had owned (the old string!) that my heart was free.' (Clarissa 110)

Ein komplexes Geflecht von Druckausübung ist hier ins Werk gesetzt. Der Vater beginnt mit dem Verweis auf seinen eigenen Leidensdruck; Clarissa soll sich in den Vater hineinversetzen und um der Beendigung seiner "suspense" und der Wiederherstellung seiner "repose" willen zu Opfern bereit sein. Zugleich übt der Vater durch die Drohung mit dem Verlust ihrer eigenen Seelenruhe und Integrität Druck auf seine Frau aus, damit diese sich gänzlich für die Durchsetzung seiner Ziele einsetze. Clarissas Mutter reproduziert nun die Geste des Vaters, und zwar nicht nur, indem sie den Hinweis auf dessen Leidensdruck weitergibt, sondern auch, indem sie durch die Darstellung des Gesprächs ihren eigenen Leidensdruck ins Spiel bringt. Auch in die Mutter soll sich Clarissa hineinversetzen, auch ihre Bedrängnis soll sie beenden. Mit ihrer eigenen Autorität droht die Mutter nicht von sich aus. Vielmehr hat die erzwungene Ausübung dieser Autorität (die in dieser Geste gleichwohl angedroht wird) gerade wesentlichen Anteil am Leiden der Mutter.

Der Punkt, an dem aber diese ganzen Interventionen ansetzen, ist Clarissas Herz. Auch hier ist zunächst nicht die ausgesagte Wahrheit, sondern die Tatsache, daß eine Aussage als Wahrheit in Umlauf kommt, entscheidend. Sollte Clarissas wiederholte Erklärung, ihr Herz sei frei, zutreffen, dann müßte der natürliche Impuls dieses Herzens Clarissa dazu bewegen, sich dem hier vielfach ausgeübten Druck nicht entgegenzustellen, sondern ihm nachzugeben. "Let me, if your heart be really free, let me see what it will induce you to do to oblige me" (Clarissa 92), hatte die Mutter schon früh gedrängt.2 Um die Wahrheit ihrer Aussage über ihr Herz zu belegen, bleibt Clarissa nur die Wahl, sich dem Willen der Familie zu fügen.

Folgerichtig ergänzt den Appell an Clarissas freies Herz der Verdacht, daß Clarissas Erklärung unzutreffend sei:

It is not possible, I must say again and again, were all men equally indifferent to you, that you should be thus sturdy in your will [...]

[...]

Ah, girl, never say your heart is free! You deceive yourself if you think it is.

[...]

[...] let me repeatedly tell you that it is evident to me, that nothing but a love unworthy of your prudence can make a creature late so dutiful, so sturdy. (Clarissa 112)

Diente der Appell an Clarissas unvergebenes Herz dazu, ihr nur eine mögliche Handlung offen zu lassen, so hat die ihr zugeschriebene Liebe für Lovelace eine komplementäre Funktion. Indem die Familie vorgeben kann, mit dieser Liebe die wahre Motivation für Clarissas Verweigerung einer Heirat mit Solmes zu kennen, umgeht sie die Notwendigkeit, sich mit den von Clarissa vorgebrachten Gründen gegen diese Heirat auseinanderzusetzen.

Clarissa macht ihrerseits nun eine ganz spezifische Aussage über die Wahrheit ihres Herzens zum Ankerpunkt für eine Gegenstrategie. Zunächst analysiert sie die komplementäre Rolle, die die Annahmen, sie liebe Lovelace bzw. sie liebe ihn nicht, für die Fundierung des Vorgehens ihrer Familie spielen:

In the first place, they have grounded their principal argument for my compliance with their will upon my acknowledgements that my heart is free; and so [...] my opposition has the look of downright obstinacy [...]

Next, although they build upon this argument in order to silence me, they seem not to believe me, but treat me as violently and as disgracefully, as if I were in love with one of my father's footmen [...] (Clarissa 136)

Das Recht, von Clarissa ein Bekenntnis ihres Herzenszustands zu fordern, dessen Inhalt dann aber nicht einfach akzeptiert, sondern seinerseits interpretiert wird, ist also integraler Bestandteil der Strategie, die Familie Harlowe als "embattled phalanx" verfolgt. In dieser Situation ist für Clarissa die Aussage, daß ihr Herz frei sei, taktisch wertlos. Sie zieht die Konsequenz, ihre offizielle Position zu ändern: "[...] I have thought proper to give them their own way; and, since they will have it that I have a preferable regard for Mr Lovelace, I give them a cause rather to confirm their opinion than doubt it" (Clarissa 136). Clarissas Gegenstrategie baut darauf, daß sich im Familienrat keine Mehrheit dafür finden werde, sie dazu zu zwingen, ihrem Herzen solche Gewalt anzutun. Doch ihr ist kein Erfolg beschieden. Denn einerseits verfolgt die Familie nun umso entschlossener den Weg, Clarissa zu zwingen, als eine schließliche Einwilligung ihrerseits nicht mehr zu erwarten ist: "[...] now that I have given them reason [...] to suppose that I have a preference to another, they are resolved to carry their schemes into execution as soon as possible" (Clarissa 176 f.). Andererseits wird die Argumentation mit dem freien Herzen ersetzt durch den Appell an die veredelnde Kraft des Opfers. So sagt Clarissas Onkel Harlowe: "Let me tell you, the virtue of obedience lies not in obliging when you can be obliged again: but give up an inclination, and there is some merit in that" (Clarissa 150).3

Unabhängig vom Erfolg einer einzelnen Intervention bleibt die zentrale Bedeutung des Bekenntnisses wie der alternativen Interpretationsverfahren für die verfolgten Strategien festzuhalten. Die Frage, was denn nun wirklich die Wahrheit über Clarissas Herz sei — das, was sie als Wahrheit aussagt, oder das, was aufgrund anderer Indizien als Wahrheit erkannt wird —, die Frage nach der wahren Wahrheit über Clarissas Herz stellt sich im Rahmen von konfligierenden Modi der Ermittlung dieser Wahrheit des Subjekts.

Clarissa und Miss Howe: Bekenntnis und Aufrichtigkeitsgebot

Clarissas Vertrauensverhältnis zu Miss Howe steht im Kontrast zu den dominant agonalen Beziehungen, in denen Clarissa sowohl zu ihrer Familie als auch zu Lovelace steht. Zwischen beiden Korrespondentinnen herrscht ein Gebot der vorbehaltlosen Aufrichtigkeit und zugleich eine Loyalität, die sich von der Atmosphäre des gegenseitigen Belauerns und der Suche nach Vorteilen über die Gegenseite, wie sie für Clarissas Beziehungen zu Lovelace wie zur Familie typisch sind, abhebt. Wenn die am Ende des vorigen Abschnitts getroffene Unterscheidung zwischen einer 'wahren' Wahrheit im Unterschied zu einer Aussage, die zwar als Wahrheit in Umlauf kommt und entsprechende Wirkungen entfaltet, jedoch im Lichte anderer Weisen der Wahrheitsfindung als nicht die 'wahre' Wahrheit erscheint, aufrecht erhalten werden kann, so könnte man vermuten, daß die von vorbehaltloser Offenheit und vollkommenem Vertrauen gekennzeichnete Beziehung zwischen Clarissa und Miss Howe der Ort wäre, an dem diese wahre Wahrheit ausgesagt würde. Doch das Transparenzgebot der vertraulichen Korrespondenz macht diese noch nicht zum Ort der 'wahren' Wahrheit, die von den durch taktische Erwägungen motivierten Aussagen in anderen Relationen abzugrenzen wäre.

Zunächst ist zu konstatieren, daß das offene Bekenntnis ihrer Gefühle für Lovelace auch eine Forderung ist, die Miss Howe an Clarissa richtet. Die Freundschaftspflicht des ratgeberischen Beistands und eine zu den Merkmalen dieser Freundschaft zählende vollkommene Kenntnis des Zustands von Clarissas Herz sind die komplementären Züge, die dieser Forderung Gewicht verleihen:

[...] if you would clearly and explicitly tell me, how far Lovelace has, or has not, a hold in your affections, I could better advise you what to do, than at present I can. You [...] have had, no doubt, reasonings in your heart about him [...]. Nothing less than the knowledge of the inmost recesses of your heart can satisfy my love and my friendship. (Clarissa 174)

Die verborgensten Winkel ihres Herzens soll Clarissa für ihre Vertraute beleuchten, und sie akzeptiert diese Forderung als konstitutiv für ihre Beziehung zu Miss Howe. Der Vorwurf, sie habe sich ihr verweigert, wiegt so schwer, daß seine Entkräftung oberste Priorität hat: "Your last so sensibly affects me, that I must postpone every other consideration, however weighty, to reply to it: and this I will do very distinctly, and with all the openness of heart which our mutual friendship demands" (Clarissa 175). Daran schließt sich ein regelrechtes Bulletin über den Zustand ihres Herzens hinsichtlich Lovelaces an. Zuerst betont sie, daß jedes vorteilhafte Licht, in dem Lovelace in ihren Augen erscheint, eine Funktion der speziellen Situation ist, in der sie sich befindet, und keineswegs Ausdruck ihrer spontanen Herzensbewegungen. Vor- und Nachteile Lovelaces werden gegeneinander abgewogen. Auf der Positivseite findet sich die Tatsache, daß Lovelace keines der sonst verbreiteten Laster von Ehemännern hat. Er ist "no gamester; no horse-racer; no fox-hunter; no drinker" (Clarissa 181). "He was never thought to be a niggard [...]: nor [...] an extravagant, or squanderer [...]. He was no jester upon sacred things [...]" (Clarissa 182): Vorteile, die die Familie einst in ihm sah.4 Zudem bürgten seine Erziehung und sein Stil für eine bessere Behandlung als sie sie gegenwärtig durch ihre eigene Familie erfahre. Dazu käme die Süße seiner Rückgewinnung für die Tugend. Gegen Lovelace spreche aber sein schlechter Ruf sowie der nicht auszuräumende Verdacht, er sei verschlagen und nachtragend.5 Er scheine charakterlich unzuverlässig, unausgereift und unzulänglich, und sie sollte sich somit vor jeder näheren Verwicklung mit ihm hüten.

Nun folgt das Bekenntnis:

Well but, methinks you say, what is all this to the purpose? This is still but reasoning: but, if you are in love, you are [...]

Why then, my dear, if you will have it, I think that, with all his preponderating faults, I like him better than I ever thought I should like him; and, those faults considered, better perhaps than I ought to like. And, I believe, it is possible for the persecution I labour under to induce me to like him still more [...] — In a word, I will frankly own (since you cannot think anything I say too explicit), that were he now but a moral man, I would prefer him to all the men I ever saw. (Clarissa 185)

Noch dieses Eingeständnis ist mit Einschränkungen versehen und an Bedingungen geknüpft, die seine Gültigkeit einschränken: Zunächst spricht die Sprecherin nicht aus freien Stücken, sondern auf Aufforderung ("if you will have it"); sie distanziert die Empfindung von ihren eigenen Erwartungen ("better than I ever thought"); sie mißt sie an dem nach Abwägung der Persönlichkeit Lovelaces erwartbaren Resultat ("better [...] than I ought to like"); sie knüpft sie an die gegenwärtigen Umstände, die ihn in einem günstigen Licht erscheinen lassen ("the persecution I labour under"); sie gesteht schließlich eine Neigung, die immer noch nicht alleine steht, sondern an die Einschränkung "were he now but a moral man" geknüpft ist.

Was gesteht Clarissa also? Die Fortsetzung ihres Briefs macht es deutlich:

So that this is but conditional liking still, you'll say. Nor, I hope, is it more. I never was in love; and whether this be it, or not, I must submit to you — But will venture to think it, if it be, no such mighty monarch, no such unconquerable power, as I have heard it represented; and it must have met with greater encouragements than I think I have given it, to be so irresistible — Since I am persuaded, that I could yet, without a throb, most willingly give up the one man to get rid of the other. (Clarissa 185)

Sie gesteht eine Neigung, der sie genau die Unwiderstehlichkeit und mithin Unausweichlichkeit ihrer Folgen für den einer verliebten Person noch verbleibenden Handlungsspielraum abspricht. Es handelt sich um "conditional liking", weil Clarissa die Bedingungen, an die das Gefühl geknüpft ist, für bei weitem ausschlaggebender erachtet als die Impulse, die von dieser Neigung ausgehen.

Im Zeichen der gleichen Offenheit, die Miss Howe erlaubte, ihre Bekenntnisforderung an Clarissa zu richten, schließt Clarissa an ihr Bekenntnis zwei 'Gegenschläge' an, die ebenfalls die speziellen Umstände der Bekenntnisforderung thematisieren. Zum einen hält sie Miss Howe den Angriff vor, den eine Geständnisforderung in der gegebenen Situation darstellt:

But now to be a little more serious with you: if, my dear, my particularly unhappy situation had driven (or led me, if you please) into a liking of the man; and if that liking had, in your opinion, inclined me to the other L, [...] should you have pushed so far that unhappy friend on so very nice a subject? — Especially when I aimed not [...] to guard against being found out. Had you rallied me by word of mouth in the manner you do, it might have been more in character; especially if your friend's distresses had been surmounted; and if she had affected prudish airs in revolving the subject: But to sit down to write it, as methinks I see you, with a gladdened eye, and with all the archness of exultation — Indeed my dear (and I take notice of it, rather for the sake of your own generosity, than for my sake; for, as I have said, I love your raillery) it is not so very pretty; the delicacy of the subject, and the delicacy of your own mind, considered. (Clarissa 185 f.)

Die detaillierte Insistenz auf den erschwerenden Umständen ("my particularly unhappy situation"), auf dem unterstellten Triumphieren der Sprecherin ("with a gladdened eye, and with all the archness of exultation") und der mangelnden Großzügigkeit, sprechen für ein tiefes Getroffensein. Sie lenken aber vor allem den Blick auf die taktische und strategische Situation, in der die Geständnisforderung erhoben wird und auf die Wirkungen, die eine solche Forderung zeitigt.

Denn das macht Clarissa wiederholt deutlich: Ein Liebesgeständnis impliziert eine Demütigung, die aus dem Verlust der Kontrolle über das Wissen, das hinsichtlich des eigenen Herzens im Umlauf ist, resultiert.6 Es muß also alles daran gelegen sein, die Kontrolle über diese öffentlich wirksame Information zu behalten.

[...] I could be glad, for Sex's sake, that you would not let this imputation pass so glibly from your pen, or your lips, as attribuable to one of your own sex, whether I be the person or not: since the other must have a double triumph, when a person of your delicacy (armed with such contempts of them all, as you would have one think) can give up a friend, with an exultation over her weakness, as a silly, love-sick creature! (Clarissa 135)

Entscheidende Bedeutung wird wieder dem Kontext, in dem eine bestimmte Aussage über den Zustand des Herzens gemacht wird, zugeschrieben.

Zum anderen mischt Clarissa in ihre wohlbedachte und in aller Vollständigkeit abgegebene Verlautbarung hinsichtlich ihres Herzenszustands eine Anspielung, die Miss Howes frühere Schwäche (für einen gewissen Sir George Colmar, dem ins Ausland zu folgen nur der Einfluß Clarissas sie hinderte7) in Erinnerung ruft, und mit einer gleichzeitigen Absage Clarissas an die angeblich unüberwindliche Macht der Liebe gekoppelt ist. Bricht hier nicht eine gewisse Unstimmigkeit im Verhältnis der Freundinnen durch, erhebt nicht Miss Howe in den wiederholten Aufforderungen zum offenen Bekenntnis ihrer Liebe zu Lovelace Anspruch auf den Einfluß auf Clarissa, den sie ihr im umgekehrten Fall gewährte? Will nicht Clarissa sich dieser Parität in der Freundschaft entziehen und einen Bereich wahren, in dem sie der Freundin nicht das Mitspracherecht zugesteht, das sie damals forderte und das ihr eingeräumt wurde? Ganz ausdrücklich unterstellt sie jedenfalls ihrer Korrespondentin, daß diese die Situation nutzt, um eine alte Rechnung zu begleichen, und letztlich genausowenig wie Clarissas Geschwister die Gelegenheit für eine Verringerung der unantastbaren Überlegenheit Clarissas vorübergehen läßt: "the eager-eyed observer has been formerly touched herself," so schreibt sie, "and would triumph that her friend had been no more able to escape than she!" (Clarissa 175).

Auch die unter einem Aufrichtigkeitspostulat stehende Beziehung der beiden Korrespondentinnen ist nicht der Ort, an dem die 'wahre' Wahrheit unabhängig von taktischen und strategischen Erwägungen ihren Platz hat; sie weist vielmehr genauso wie die anderen Beziehungen, in deren Rahmen Clarissa unter einer Bekenntnisverpflichtung steht, zwei Merkmale auf. Eines dieser Merkmale wurde bislang vorrangig dargestellt: In der Form des Bekenntnisses kommt eine Aussage Clarissas über sich selbst unter dem Aspekt der Wahrheit des Subjekts in Umlauf und dient als Ansatzpunkt für unterschiedliche und gegenläufige Strategien. Zweitens aber bestehen komplementär oder in Konkurrenz zum Bekenntnis andere Verfahren, die ebenfalls die Ermittlung der Wahrheit zum Ziel haben und die erst den Konflikt um die 'wahre' Wahrheit instaurieren. Die Modalitäten des Zusammenspiels dieser konkurrierenden Verfahren zur Ermittlung der Wahrheit gilt es nun in den Blick zu nehmen.


  1. Zur Rolle von Penetrationsstreben und Undurchdringlichkeit in Clarissa vgl. Leo Braudy (1974).
  2. Weitere solche Vorstöße siehe Clarissa 91, Clarissa 97, Clarissa 109.
  3. Vgl. auch die Ermahnung durch Mrs. Norton im Zuge einer weiteren Verhandlungsrunde: "[...] remember that there would not be any merit in your compliance, if it were not to be against your own will" (Clarissa 179).
  4. Die Angemessenheit solcher Überlegungen bei der Einschätzung eines künftigen Gatten verbürgt das oben dargestellte Advice to a Daughter, wo ja die möglichen Laster von Ehemännern und ihre Konsequenzen für die Situation der Ehefrau durchgespielt werden (vgl. oben S. 65).
  5. Vgl. Clarissa 183 f.
  6. Vgl. a. Clarissa 546: "[...] were but a woman who is thought to be in love with a man [...] to reflect one moment on the exaltation she gives him, and the disgrace she brings upon herself, the low pity, the silent comtempt, the insolent sneers and whispers, to which she makes herself obnoxious from a censuring world of both sexes, how would she despise herself! And how much more eligible would she think death itself to such a discovered debasement!"
  7. Vgl. Clarissa 635.