Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Eheanbahnung und Figurencharakterisierung

Liebesbeziehungen und Eheanbahnungen fehlen in den Romanen nicht, doch sind Verlauf und Resultate dieser Beziehungen bei den positiv gezeichneten Figuren nie das Ergebnis strategischen Vorgehens. Unvorhergesehene Wendungen einerseits und vor allem die Charaktere der Beteiligten andererseits bestimmen die Entwicklung von Liebesbeziehungen.

Der Vicar of Wakefield setzt ein mit einem Rückblick auf eine erfolgreiche Partnerwahl, die sich von dem Bemühen leiten ließ, der Geschlechtlichkeit einen sozioreligiös angemessenen Rahmen zu geben:

I was ever of opinion, that the honest man who married and brought up a large family, did more service than he who continued single and only talked of population. From this motive, I had scarce taken orders a year, before I began to think seriously of matrimony, and chose my wife, as she did her wedding-gown, not for a fine glossy surface, but such qualities as would wear well. To do her justice, she was a good-natured, notable woman; and as for breeding, there were few country ladies who could show more. She could read any English book without much spelling; but for pickling, preserving, and cookery, none could excel her. (Goldsmith, Vicar, 1)

Eine Gattin ganz nach dem Muster einer Whole Duty of a Woman hat der Vicar erwählt, sobald er eine Familie ernähren konnte. Es war die zu erwartende Qualität des Zusammenlebens, die bei seiner Wahl den Ausschlag gab. Grund für seine Entscheidung, sich überhaupt zu verheiraten, war nicht das Vermeiden von uncleanness und fornication, auch nicht das göttliche Gebot der Kinderzeugung, sondern die Erwägung, daß der Familienvater ein nützlicherer Mensch ist als der Junggeselle.

Diese Überzeugung predigt der Vicar auch von der Kanzel. Er wirkt in seiner Gemeinde, "exhorting the married men to temperance, and the bachelors to matrimony" (Goldsmith, Vicar, 6). Das Thema ist für ihn geradezu ein hobby-horse, wie er selbst gesteht:

Matrimony was always one of my favourite topics, and I wrote several sermons to prove its happiness: but there was a peculiar tenet which I made a point of supporting; for I maintained with Whiston, that it was unlawful for a priest of the Church of England, after the death of his first wife, to take a second [...]

I was early initiated in to this important dispute, on which so many laborious volumes have been written. I published some tracts upon the subject myself, which, as they never sold, I have the consolation of thinking were read by the happy Few. Some of my friends called this my weak side; but, alas! they had not, like me, made it the subject of long contemplation. The more I reflected upon it, the more important it appeared. (Goldsmith, Vicar, 6 f.)

Die Ehe also als Lieblingsgegenstand und Fokus einer gelehrten und pedantischen Auseinandersetzung. Die unverkennbare Ironisierung der gelehrten Pedanterie, mit der sich der Vicar in die Whistonsche Kontroverse stürzt, ändert nichts an der Tatsache, daß für seine Thesen die Verbindung von Wissen hinsichtlich des Geschlechtlichen mit einer Lebenspraxis andererseits grundlegend ist. Durch das Bestreben, diese Verbindung herzustellen, ist aber der Vicar als Figur charakterisiert.

"It was [...], perhaps, from hearing marriage so often recommended" (Goldsmith, Vicar, 7), schmeichelt sich der Vicar, daß sein ältester Sohn George nach Verlassen der Universität sich um die Hand von Arabella Wilmot, "daughter of a neighbouring clergyman" (Goldsmith, Vicar, 7) bewirbt. Während der Vicar die Ehe zum Gegenstand einer gelehrten und pedantischen Kontroverse macht, gehen seine drei ältesten Kinder Liebesbeziehungen ein, die in eine Ehe münden. Bestimmend für die Entwicklung dieser Liebesbeziehungen sind jeweils überraschende Wendungen und Wechselfälle. Daß die geplante Hochzeit des Sohnes George mit Arabella Wilmot teils am Starrsinn des Vicar scheitert1 und teils an dem finanziellen Schicksalsschlag, der die Familie plötzlich in die Armut stürzt2, wurde bereits erwähnt. Die Liebenden leiden still, sehen sich durch Zufall wieder und können erst, als am Ende alles Unheil beseitig wird, heiraten. Auch Sophia und Mr. Burchell alias Sir William Thornhill sind zwar einander still zugetan, seit er sie vor dem Ertrinken rettete, doch unternehmen beide nichts, um die Beziehung zu befördern; auch sie finden sich erst am Ende. Olivia, die ältere Tochter des Vicar, wird ein Opfer ihrer Hoffnungen auf eine Verbindung mit dem notorischen Frauenhelden Squire Thornhill. Sie flieht mit ihm kurz vor ihrer geplanten Hochzeit mit dem ehrlichen Farmer Williams und er geht eine Scheinehe mit ihr ein, um sie dann nach Befriedigung seiner Lust fallen zu lassen. Erst am Ende stellt sich heraus, daß die Ehe doch rechtmäßig war, und so ist Olivias Ehre gerettet. Während aber die beiden anderen Paare eine Doppelhochzeit feiern, bleiben Olivia und der als "as complete a villain as ever disgraced humanity" (Goldsmith, Vicar, 208) entlarvte Squire Thornhill zunächst getrennt, bis dieser geläutert ist und jene ihm verzeiht.

Nur in der letzten der drei Beziehungen kommt es also zu dem aus der Liebesintrige bekannten Spiel um Belagerung, Widerstand und Eroberung. Olivias Leichtgläubigkeit und Eitelkeit steht dabei der kalte Egoismus des Squire gegenüber. Auch er droht, wie schon Vieuville, Dorimene und Lovelace, die kleine Gemeinschaft ins Unglück zu stürzen.3 Die großen Szenen in der Entwicklung seiner Beziehung zu Olivia sind indessen nicht mit den Strategien und Gegenstrategien der beiden verbunden. Die emotional intensivsten Szenen zeigen die Auswirkung der Nachricht von Olivias Flucht, die vom kleinsten Sohn Dick in die traulich beisammensitzende Familie gebracht wird, sowie das Wiedersehen zwischen Vater und Tochter in dem Moment als diese elend und mittellos im Begriff ist, von der Gastwirtin auf die Straße gesetzt zu werden.4 In dieser Konzentration auf Schicksalsumschwünge, d.h. auf Situationen, die ohne die Kontrolle der Hauptbetroffenen zustandegekommen sind, trifft sich der Verlauf dieser Beziehung mit dem der anderen Liebesbeziehungen und mit dem Gang der Erzählung insgesamt.

In Tristram Shandy und im Man of Feeling kommen die möglichen Ehen gar nicht zustande: Weder Toby Shandy und Mrs. Wadman noch Harley und Miss Walton heiraten, obwohl die Umstände diese Beziehungen eigentlich eher begünstigen. Die Witwe Wadman hat sich — und zwar durchaus mittels genau geplanter "Attacken"5 — jahrelang vergeblich bemüht, Toby Shandys Liebe zu erregen. Trotz des intensiven Interesses, das sie sogar für Tobys Leidenschaft für das Befestigungswesen zeigt, gelingt es ihr lange nicht, seine Gegenliebe zu erregen. Schließlich bietet sich, als Toby durch das Ende des spanischen Erbfolgekriegs für anderes empfänglicher geworden ist, eine Gelegenheit, ihn zu einem tiefen Blick in ihre Augen zu bewegen. Dieser Blick, wie der Erzähler sagt, "did my uncle Toby's business" (Sterne, Tristram Shandy, 8.25.552). Nach einigen Umständlichkeiten und Beratungen in der ganzen Familie begibt sich Toby zu der Witwe und erklärt ihr in aller Kürze seine Liebe. Damit steht die Witwe vor der Erreichung ihres Ziels.

Da allerdings ihr erster Mann ein Invalide war ("[her] first husband was all this time afflicted with a Sciatica", Sterne, Tristram Shandy, 9.26.605) und Toby eine Kriegsverletzung hat, liegt ihr noch daran herauszufinden, ob Tobys Verletzung seine Tauglichkeit zum ehelichen Beischlaf beeinträchtigen wird. Diese Information versucht sie zunächst von Dr. Slop zu bekommen:

To clear up all, she had twice asked doctor Slop, 'if poor Captain Shandy was ever likely to recover of his wound —?'

— He is recovered, doctor Slop would say —

What! quite?

—— Quite: madam —

But what do you mean by a recovery? Mrs Wadman would say.

Doctor Slop was the worst man alive at definitions; and so Mrs Wadman could get no knowledge [...] (Sterne, Tristram Shandy, 9.26.606)

Da die erstrebte Auskunft von Dr. Slop nicht zu bekommen ist, bleibt nur Toby selbst als Informationsquelle. Mrs. Wadman kleidet die Frage nach der Funktionstüchtigkeit seines Geschlechtsorgans in eine Besorgnis um sein Wohlbefinden:

There is an accent of humanity in an enquiry of this kind which lulls Suspicion to rest — [...]

'— Was it without remission? —

'— Was it more tolerable in bed?

'— Could he lie on both sides alike with it?

'— Was he able to mount a horse?

'— Was motion bad for it?' et caetera were so tenderly spoke to, and directed towards my uncle Toby's heart, that every item of them sunk ten times deeper into it than the evils themselves [...] (Sterne, Tristram Shandy, 9.26.606)

Toby nimmt ihre Fragen zum Anlaß, ihr die Geschichte seiner Verwundung ausführlich zu berichten, und ist vom Ausmaß ihres Mitgefühls und der sich vermeintlich darin ausdrückenden Menschlichkeit stark berührt.

Dr. Slop und Toby scheinen dabei die einzigen zu sein, die die wahre Richtung des Interesses von Mrs. Wadman mißverstehen. Denn über deren Dienerin Bridget gelangt das Dilemma in Umlauf, und bald gibt es "not an old woman in the village or five miles round, who did not understand the difficulties of my uncle Toby's siege, and what were the secret articles which had delayed the surrender. —" (Sterne, Tristram Shandy, 9.32.613).

Auch Toby werden schließlich die Augen über die Ursache von Mrs. Wadmans Interesse für seine Wunde geöffnet. Als er im Gespräch mit seinem Diener Trim die hartnäckigen Erkundigungen der Witwe nach seiner Verletzung zum Beweis anführen will, daß das Ausmaß von Mrs. Wadmans Güte und Liebe dasjenige ihrer Dienerin Bridget, der Trim zugetan ist, weit übersteigt, klärt Trim seinen Herrn über die Differenz zwischen einem Knie- und einem Leistenschaden auf:

'The knee is such a distance from the main body — whereas the groin, your honour knows, is upon the very curtin of the place.'

My uncle Toby gave a long whistle [...] (Sterne, Tristram Shandy, 9.31.612)

Tobys Entsetzen über soviel Lüsternheit, die sich als die tiefste Menschlichkeit maskiert, ist also der Anlaß, aus dem er sich, wie schon zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt im Roman berichtet, "with disgust" (Sterne, Tristram Shandy, 3.24.317) von der Witwe abwendet. Der Text allerdings bringt nach dieser Enthüllung die Geschichte nicht mehr weiter voran, denn mit einer begonnenen Tirade Walter Shandys gegen die Liebesleidenschaft, die durch das Problem des impotenten Zuchtbullen unterbrochen wird, kommt der Roman zu einem abrupten Ende.

Auch Harley, der Gefühlsmensch, steht in einer Liebesbeziehung, und auch diese Beziehung ist nicht durch die strategischen Gesichtpunkte der Vorteilserringung und Nachteilsvermeidung gezeichnet. Harley liebt Miss Walton, die die Verkörperung von Anmut, "good-humour" (Mackenzie, Man of Feeling, 15), "sentiment", "beneficence" und "humanity" (Mackenzie, Man of Feeling, 16) ist. Schüchternheit und ein wesentlich geringeres Vermögen6 halten ihn von jedem Versuch ab, seine Neigung zu realisieren. Als das Gerücht auftaucht, Miss Walton solle einen gewissen Sir George Benson heiraten7, ist Harley erschüttert. Die Ehe kommt indessen nicht zustande, doch, so scheint es, "Harley had not profited on the occasion by making any declaration of his own passion, after those of the other had been unsuccessful" (Mackenzie, Man of Feeling, 126). Harleys Gesundheitszustand ist beeinträchtigt, denn er hat sich im Dienst an anderen zu sehr verausgabt: "[...] he had been seized with a very dangerous fever, caught by attending old Edwards in one of an infectious kind. From this he had recovered but imperfectly, and though he had no formed complaint, his health was manifestly on the decline." (Mackenzie, Man of Feeling, 126). Ist seine unerfüllte Liebe zu Miss Walton der Grund für seine schleppende Genesung? Der Text stellt diese Frage8 und verspricht Aufklärung durch die folgende Szene, in der Miss Walton den kranken Harley besucht:

[...] Harley lifted his eyes from the ground — 'There are,' said he, in a very low voice, 'there are attachments, Miss Walton' — His glance met hers — They both betrayed a confusion, and were both instantly withdrawn. — He paused some moments — 'I am in such a state as calls for sincerity, let that also excuse it — It is perhaps the last time we shall ever meet. I feel something particularly solemn in the acknowledgement, yet my heart swells to make it, awed as it is by a sense of my presumption, by a sense of your perfections' — He paused again — 'Let it not offend you to know their power over one so unworthy — It will, I believe, soon cease to beat, even with that feeling which it shall lose the latest. — To love Miss Walton could not be a crime; — if to declare it is one — the expiation will be made.' — Her tears were now flowing without controul. — 'Let me entreat you,' said she, 'to have better hopes — Let not your life be so indifferent to you; if my wishes can put any value on it — I will not pretend to misunderstand you — I know your worth — I have known it long — I have esteemed it — What would you have me say? — I have loved it as it deserved.' — He seized her hand — a languid colour reddened his cheek — a smile brightened faintly in his eye. As he gazed on her, it grew dim, it fixed, it closed — He sighed, and fell back on his seat. (Mackenzie, Man of Feeling, 130)

Harleys Liebesbekenntnis wird in der Extremsituation des nahen Todes abgelegt und erwidert; eine letzte Gefühlsaufwallung, und Harley ist tot.

Beantwortet diese Szene die Frage, ob Harleys Liebe tatsächlich hoffnungslos war? Es scheint doch, sie war es nicht, denn Harley traf doch auf Gegenliebe, und hätte er nur früher gesprochen und wäre er nicht im unmittelbaren Anschluß an das beiderseitige Liebesbekenntnis gestorben, so wäre ein gemeinsames Glück mit Miss Walton nicht ausgeschlossen gewesen. Auch wenn Harley nur ein Jahreseinkommen von £ 250 hat9 und es trotz des Beistands von Miss Waltons Vater nicht erhöhen kann, während Miss Walton Aussichten hat, £ 4000 jährlich zu erben, scheint Miss Walton eine Verbindung nicht für unmöglich zu halten. Sie erklärt ihm gar in der zitierten Passage mit freimütigem Ernst ihre Liebe. Ist sie um seinetwillen bis ins Alter von vierundzwanzig Jahren unverheiratet geblieben, obwohl sie mit siebzehn ein "universal toast" (Mackenzie, Man of Feeling, 15) war? Hat sie in der Hoffnung, Harley aus der Reserve zu locken, die vorübergehende Bewerbung von Sir George Benson zugelassen, oder hat sie diesen zumindest deshalb abgelehnt, weil sie hoffte, daß Harley doch schließlich noch um sie anhalten würde? Der Text gab zwar die Informationen, doch solche Zusammenhänge stellte er nicht her.

Jedenfalls heiratet Miss Walton auch nach Harleys Tod nicht. Schon in der Vorgeschichte erscheint "a young lady with a book in her hand" (Mackenzie, Man of Feeling, 4) an einem melancholischen Ort im Wald; in manche Baumrinden ist etwas eingeschnitten, und einige Äste sind beseitigt, um den Blick auf einen etwas entfernt gelegenen kleinen Wasserfall freizugeben. Nach Auskunft des curate sucht Miss Walton diesen Ort gerne auf.10 Harley ist schon lange tot. Was mag sie lesen, was ist in die Baumrinden geritzt, warum blickt sie aus dieser melancholischen Atmosphäre auf das Bächlein, das sich in einer kleinen Kaskade bricht? Der Text gibt keine weiteren Daten, doch hat es durchaus den Anschein, als wahre Miss Walton Harleys Andenken.

Wenn Harley und Miss Walton aber zum gemeinsamen empfindsamen Glück auf dem Landsitz wie geschaffen waren, so fehlt offensichtlich nur eines, um dieses Glück zu realisieren: Harley müßte seine Liebe gestehen. Auf den Moment, in dem Harley tatsächlich dieses Bekenntnis ablegt, folgt nun aber sein Tod, der herbeigeführt zu sein scheint durch das Übermaß des Glücks, das Miss Waltons Geständnis der Gegenliebe auslöst. Der Text stellt nicht die Frage, ob ein früheres Geständnis Harleys, das ihn dieses Glück bei besserer Gesundheit hätte erleben lassen, denselben Effekt gehabt hätte oder nicht. Denn erst die Extremsituation kann ihm dieses Geständnis entreißen. Keine andere Figur macht sich daran, (etwa wie der Marquis de Stainville in Isabelles Geschichte in David Simple) den beiden Liebenden ihr Geheimnis zu entlocken und sie dadurch einander zuzuführen. Was in der Familie Walton hinsichtlich der Verheiratung der Tochter an Erwägungen vorgeht, teilt der Text nicht mit. Harleys Tante, das einzige überlebende Familienmitglied, das im Haushalt lebt, bemerkt Harleys Liebe nicht11.

Nun scheint diese Liebe kein Gefühl zu sein, das auf intersubjektive Realisierung angelegt ist. Eher ist dieses Gefühl konstitutiv für Harleys Selbsterfahrung, ist es Teil seiner Identität. Als es vorübergehend so aussieht, als stünde Miss Waltons Hochzeit bevor, reagiert Harley nicht nur mit Herzklopfen, Beklemmungen, Zittern und einem Versagen der Stimme; er dichtet auch die Klage eines unglücklich liebenden Schäfers ("Lavinia —— can never be mine!" (Mackenzie, Man of Feeling, 114), klagt er), in der er seine Leidenschaft ausdrücklich vom Aussprechen der Liebe dissoziiert und sie in körperlichen Symptomen ansiedelt:

Im Herzschlag und im flüchtigen Blick wohnt Harleys Liebe, nicht in einer auf konventionelle Formen zurückgreifenden Formulierung. Was Harley am Bekennen seiner Liebe hindert, sind nicht die Umstände, sondern es ist das Wesen dieser Liebe selbst.

In dieser Scheu vor dem Aussprechen, in dieser physischen Verankerung im Wesen steht Harleys Liebe im Einklang mit seinem gesamten Charakter. Dieser ist von einem Merkmal geprägt, das der Roman in seinem ersten Kapitel programmatisch einführt: von der bashfulness. "There is some rust about every man at the beginning; [...] in Britain, it often goes with a man to his grave; nay, he dares not even pen a hic jacet to speak out for him after his death" (Mackenzie, Man of Feeling, 7). Und weil "rust" einen Mangel an Weltgewandtheit impliziert, der durch Vernachlässigung und Inaktivität erst erworben wird, muß der Ausdruck korrigiert werden. Bashfulness sei kein Rost, sondern "an encrustation, which nature has given for the purposes of the greatest wisdom" (Mackenzie, Man of Feeling, 9). So kommt es zu folgender Definition:

[...] there are two distinct sorts of what we call bashfulness; this, the aukwardness of a booby, which a few steps into the world will convert into the pertness of a coxcomb; that, a consciousness, which the most delicate feelings produce, and the most extensive knowledge cannot always remove. (Mackenzie, Man of Feeling, 9)

Harley, das wird ebenfalls gesagt, gehört zu "the latter species of bashful animals" (Mackenzie, Man of Feeling, 9); die extreme Zartheit seiner Gefühle, eine Schüchternheit, die nicht von einem Mangel an Weltgewandtheit herrührt und der Überheblichkeit Platz machen könnte, sondern die mit ihm geboren ist und ihn bis in sein Grab begleiten wird. Wenn ein solchermaßen Schüchterner nicht einmal wagt, mit einer Grabinschrift auf sich hinzuweisen, so wird verständlich, welch heroischen Akt Harley vollbrachte, als er Miss Walton seine Liebe gestand. Es ist aber auch verständlich, daß er diesen Akt nur im Angesicht des Todes und vielleicht um den Preis seines Todes vollziehen konnte.

An dem zuletzt diskutierten Beispiel von Harleys Liebe zu Miss Walton wurde am weitesten der Zusammenhang verfolgt, der zwischen dem Verlauf der Liebesbeziehung einerseits und dem Charakter der Figur, also demjenigen, in dem die Wahrheit des Subjekts Harley liegt, andererseits besteht. Die Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden Liebenden wird nicht mehr als das Resultat ihrer jeweiligen taktischen Schritte aufgefaßt, sondern sie ergibt sich aus dem Charakter, aus der 'Wahrheit des Subjekts'. Dies gilt in ähnlicher Form auch für die anderen Beziehungen. Es ist vor allem der Charakter der Figuren — die kleinen Schwächen, für deren liebenswerte Darstellung der Vicar of Wakefield berühmt ist, der Egoismus von Squire Thornhill, der soviel Unglück über die Familie bringt —, die den Verlauf der Liebesbeziehungen in diesem Roman bestimmen. Und auch Tobys Beziehung zu Mrs. Wadman steht ganz im Zeichen seiner drei Hauptcharakteristika: seiner modesty, seiner Güte und seines hobby-horse.

Rainer Warning hat bereits für den Tristram Shandy den Stellenwert der Charakterschilderung für den Erzählvorgang hervorgehoben: "Der Autor scheitert als 'Historiker', der Geschehen zur Darstellung bringen will, er ist erfolgreich als Charakterschilderer" (Warning 1965: 24). Sternes Text erscheint auch in dieser Hinsicht als eine besonders radikale Durchführung einer Tendenz, die in anderen zeitgenössischen Romanen ebenfalls auszumachen ist: die Konzentration auf die Charakterdarstellung und das Zurücktreten des erzählerischen Interesses an den Verkettungen von Ereignissen und den Faktoren, die einzelne Entwicklungen bestimmen. Die Ereignisse sind vor allem interessant, insofern sie den Charakter einer Figur illustrieren, und es sind die Charaktere der Figuren einerseits und die Faktoren, die nicht der Kontrolle der Beteiligten unterliegen andererseits — nicht etwa die taktischen und strategischen Aspekte einer Situation —, die die Entwicklung von Situationen bestimmen. Die geschlechtliche Leidenschaft hat dabei eine je spezifische aber immer essentielle Rolle für die je charakterisierte Figur.


  1. Während der Vicar, wie erwähnt, die Wiederheirat verwitweter Priester strikt ablehnt, heißt es über Mr. Wilmot: "he was at that time actually courting a fourth wife" (Goldsmith, Vicar, 9).
  2. Vgl. Goldsmith, Vicar, 10.
  3. Er wird bereits als ein rake eingeführt, wenn es über ihn heißt: "no virtue was able to resist his arts and assiduity, and [...] scarce a farmer's daughter within ten miles round but what had found him successful and faithless" (Goldsmith, Vicar, 13).
  4. Vgl. Goldsmith, Vicar, 92-98 und 136-141.
  5. Vgl. Sterne, Tristram Shandy, 8.16.529.
  6. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 126: "[...] according to the conceptions of the world, the love of a man of Harley's fortune for the heiress of 4000 l. a-year, is indeed desperate".
  7. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 106 ff.
  8. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 126.
  9. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 9.
  10. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 3 f.
  11. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 113.