Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Geschlecht und Charakter in Tristram Shandy

Als Toby Shandy sich daran macht, sich um die Hand der Witwe Wadman zu bewerben, greift sein Bruder Walter zur Feder und stellt eine Reihe von Ratschlägen zusammen, die Toby das bestmögliche Verhalten in der Phase der Eheanbahnung nahelegen sollen.1 Walter betont die Bedeutung der Religion, rät dem Freier, möglichst wenig Daten über seine Haarfülle, seinen Hoseninhalt und die Wärme seiner Hand preiszugeben, und gibt diätetische Anweisungen. Der Unernst und alle Bücher, die ihn hervorrufen, sind gänzlich zu meiden ("suffer her not to look into Rabelais, or Scarron, or Don Quixote —", Sterne, Tristram Shandy, 8.34.564), während das Lesen von "some devotional tracts" (Sterne, Tristram Shandy, 8.34.564) der Braut nicht schaden wird. Ganz wie schon Halifax beginnt Walter mit der Thematisierung der Wissensvermittlungsrelation: "perhaps it is as well for thee — though not so well for me — that thou hast occasion for a letter of instruction upon that head, and that I am able to write it to thee" (Sterne, Tristram Shandy, 8.34.563). Der Verfasser besitzt Wissen, der Adressat bedarf dieses Wissens und soll es sich zu seinem Vorteil aneignen.

Walter Shandys Brief parodiert nicht nur eine ganze Tradition von verhaltensproblematisierenden Texten, er weist auch ganz die Wissensverteilung auf, die insgesamt im Text hinsichtlich des Wissens über Leidenschaften und Geschlecht zu herrschen scheint: Walter Shandy ist der Träger vielfältigen und abstrusen Wissens über das Geschlechtliche; Onkel Toby ist dagegen durch außergewöhnliche und komplette Ahnungslosigkeit in sexualibus markiert; der implizite Autor arrangiert Doppeldeutigkeiten (in diesem Fall hinsichtlich von Schreibwerkzeug und Geschlechtsorganen), und die Leser, die längst wissen, daß Tristram Shandy selbst in die Kategorie von Rabelais, Scarron und Don Quijote gehört, amüsieren sich bei der Entschlüsselung der Ironien. Jede dieser Komponenten: Wissen, Unwissenheit, Doppeldeutigkeit und die Text-Leser-Beziehung, lohnt dabei eine eingehende Betrachtung.

Die Sorge um die Gesundheit und ihr komisches Scheitern

Das erste Kapitel des ersten Buchs von Tristram Shandy beginnt, wie der Roman selbst, nach Auskunft des Erzählers "ab Ovo" (Sterne, Tristram Shandy, 1.4.38): mit der Ausbreitung von detailliertem Wissen über den Zeugungsvorgang. Die entscheidende Bedeutung für Charakter und Schicksal des entstehenden Wesens, die dem Moment der Empfängnis zukomme, hätte die höchste Aufmerksamkeit der Beteiligten erfordert: "I wish either my father or my mother, or indeed both of them, as they were in duty both equally bound to it, had minded what they were about when they begot me [...]" (Sterne, Tristram Shandy, 1.1.35). Daß sie die Bedeutungsschwere des Vorgangs nicht gebührend erwogen und sich in ihrem Verhalten von ihr leiten ließen, ist es gerade, was der Erzähler beklagt.

Als Träger dieses Wissens tritt zunächst der Erzähler auf. Walter Shandy und seiner Gattin wird die mangelnde Abstimmung von Wissen und Handeln vorgeworfen. Doch bereits im dritten Kapitel wird Walter als der wahre Träger solchen Wissens und damit einer solchen Perspektive auf den Moment der Zeugung Tristrams vorgestellt. Er ist es, der immer wieder klagt: "My Tristram's misfortunes began nine months before ever he came into the world"; Mrs. Shandy dagegen, so berichtet der Erzähler, "knew no more than her backside what my father meant" (Sterne, Tristram Shandy, 1.3.37). Während der Erzähler insgesamt vor allem seine ironische Distanz zu Walters Wissen ausspielt2, besteht das hervorstechende Charakteristikum von Walter Shandy gerade in der Durchdringung alltäglicher Praktiken mit Wissen: "there was not a stage in the life of man, from the very first act of his begetting, — down to the lean and slippered pantaloon in his second childishness, but [my father] had some favourite notion to himself, springing out of it" (Sterne, Tristram Shandy, 2.19.160). Entscheidend ist die Verbindung zwischen einem vielleicht verschrobenen, aber jedenfalls von mindestens einem Beteiligten extrem ernst genommenen Wissen einerseits und einem Lebensbereich und den dort praktizierten Verhaltensweisen andererseits. Die extreme Umsicht beim Zeugungsakt, die Bedeutung der rechten Geburtsweise, der Einfluß des Vornamens auf das Schicksal und die Wichtigkeit der Erziehung nach den Vorgaben der Tristrapaedia sind Elemente eines Bestrebens, das sich darauf richtet, dem Leben des einzelnen vom seinem Entstehen an die optimalen Entwicklungsbedingungen zu bieten.

Rolle und Ziel des eingesetzten Wissens über Leidenschaften und Geschlecht haben mithin jene Modifikation vollzogen, die schon in der Onania zu verzeichnen war: das Ziel der Bestrebungen ist nicht mehr die Erhaltung der Keuschheit zur ewigen Bewahrung der Seele, sondern die Erhaltung der Gesundheit, der Leistungsfähigkeit und auch der Zeugungsfähigkeit des Körpers. Die Keuschheitsthematik spielt zwar weiterhin — nämlich in der Charakterisierung von Toby und in der Text-Leser-Beziehung — eine Rolle im Text. Vor allem mit Walter Shandy und Dr. Slop erhält der Roman aber eine sexualwissenschaftliche Dimension.3

Dabei gehört Tristram Shandy zweifellos nicht selbst zu den Exponenten jener Sexualwissenschaft, deren Anfänge anhand der Onania vorgestellt wurden und die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen bedeutenden Aufschwung nimmt. Wohl aber gewinnt der Text seine Komik zu einem entscheidenden Anteil daraus, daß er vorführt, wie prekär die Verbindung von formalisiertem Wissen und Lebenspraxis ist, mit der diese Wissenschaft die Gesundheit erhalten und das menschliche Leben befördern möchte. Das ungelöste Problem der quietschenden Türangel, an der Walters Theorien oder genauer gesagt deren Verbindung zur Praxis zuschanden werden, illustriert diesen Punkt. Sie zeigt nicht schlicht das Scheitern der Verbindung von Wissen und Verhalten, auch wenn es heißt:

[...] there was not a subject in the world upon which my father was so eloquent, as upon that of door-hinges. — And yet at the same time, he was certainly one of the greatest bubbles to them, I think, that history can produce: his rhetoric and conduct were at perpetual handycuffs. — Never did the parlour-door open — but his philosophy or his principles fell a victim to it [...] (Sterne, Tristram Shandy, 3.21.211)

Der komische Effekt entsteht gerade erst aus der Tatsache, daß eine solche Verbindung zwischen dem Ölen einer quietschenden Türangel und den leitenden Lebensprinzipen mit großem Ernst gesehen wird. Die darauffolgende Apostrophe ("Inconsistent soul that man is! [...] his whole life a contradiction to his knowledge!", Sterne, Tristram Shandy, 3.21.211) konstatiert nicht einfach die mangelnde Verbindung von Wissen und Handeln; sie setzt in der ironisierten Klage den Wert einer solchen Begründung alltäglichen Handelns auf einem formalen Wissensprinzip voraus. Nur wenn eine solche Verbindung als das Normale und Erstrebenswerte gesetzt ist, kann eine derartige Klage angestimmt werden. Die quietschende Türangel ist nur komisch in einer Welt, in der eine solche immer gefährdete Verbindung von Wissen und Handeln prinzipiell gesetzt ist.

Zeugung, Nasendimension, Namensgebung und Erziehung sind die vier Bereiche der Sorge, die nach Walter Shandy über Charakter, Erfolg und Wohlbefinden eines Menschen entscheiden.4 Nun wird Walters Konzentration bei der Zeugung Tristrams gestört, Tristrams Nase wird bei der Geburt beschädigt, der Sohn wird statt auf den kraftvollen Namen Trismegistos auf den unseligen Namen Tristram getauft und auch die Erziehung Tristrams leidet, während sein Vater mit langwieriger Bemühung sein an Xenophon orientiertes Erziehungswerk, die Tristrapaedia, abfaßt. In jedem dieser Sorgebereiche scheitert Walter also auf komische Weise.

Man braucht nicht auf die mögliche Sexualsymbolik des Beispiels von Tür und Angel zurückzugreifen, um zu konstatieren, daß das Wissen sich häufig auf Fragen der geschlechtlichen Praxis bezieht. Impotenz und genitale Läsion5 sind dabei gleichermaßen die komischen Gegenstücke einer Sorge um die Erhaltung der Zeugungsfähigkeit. Wenn ein Fenster auf den Penis des fünfjährigen Tristram heruntersaust und seine Beschneidung notwendig macht6, wenn ein Stein Onkel Toby an der Leiste verwundet, wenn der Zuchtbulle der Gemeinde seine Pflichten nicht mehr erfüllen kann, dann ist dies in dem Maße komisch, wie es eine dezidierte Bemühung um die Erhaltung der körperlichen Gesundheit und der Zeugungsfähigkeit zunichtemacht. Die Komik des Tristram Shandy setzt mithin eine Sexualwissenschaft voraus.

Als Strategie des Texts, das gilt auch für die im Folgenden untersuchten Aspekte, ist sicherlich der komische Effekt — nicht die Affirmation eines bestimmten Wissens gegen ein anderes — anzusehen. Das eingesetzte Wissen, das taktisch polyvalent ist und also in den Dienst unterschiedlicher und gegenläufiger Strategien genommen werden kann, hat der Roman aber weitgehend mit einer Sexualwissenschaft gemeinsam. Denn es geht nun nicht mehr wie in früheren Texten darum, ein bestimmtes Verhalten auf der Grundlage eines Wissens zu problematisieren, das die moraltheologischen Schriften zur Verfügung stellten.7 In der Figurencharakterisierung und der Erzählweise finden sich indessen, wie die folgenden Abschnitte zeigen sollen, die schon aus der Sorge um die Keuschheit bekannten Formen der Problematisierung des Geschlechtlichen unter dem Aspekt der Wahrheit weiter eingesetzt.

Onkel Tobys Unwissenheit: modesty

Ein Prinzip der Durchdringung von Praktiken mit formalisiertem Wissen, das sich immer wieder an spezifische Aspekte des Geschlechtlichen knüpft, läßt sich also insbesondere für Walter Shandy in Anschlag bringen. Die empfindsame Galionsfigur Toby Shandy kennzeichnen dagegen seine Güte und ein ausschließliches Interesse für die Befestigungswissenschaft, während in bezug auf Leidenschaften und Geschlecht gerade seine Unwissenheit hervorsticht.8

[...] — To think, said my father, of a man living to your age, brother, and knowing so little about women! —— I know nothing at all about them, — replied my uncle Toby [...] I neither know, nor do pretend to know, any thing about 'em or their concerns either. (Sterne, Tristram Shandy, 2.7.121)

Dennoch ist Toby Shandy nicht in eine Reihe mit Robinson Crusoe zu stellen, bei dessen Charakterisierung kein Wissen über Leidenschaften und Geschlecht eingesetzt wurde und für den anderes Wissen wichtiger war. Denn Tobys Nicht-Wissen erweist sich als solches ja gerade in Situationen, die ihn zu Leidenschaften und Geschlecht in Bezug bringen und in denen solches Wissen gefordert wäre. Tobys Nicht-Wissen wird also als je ganz spezifisches Nicht-Wissen thematisiert und muß somit als ein Wissen über die sexuelle Ahnungslosigkeit Tobys angesehen und nach seinem Einsatz befragt werden.

Den Charakter Tobys prägt neben den "virtues which usually constitute the character of a man of honour and rectitude" eine weitere Eigenschaft: "a most extreme and unparalleled modesty of nature" (Sterne, Tristram Shandy, 1.21.90). An diese Feststellung schließt sich eine ausführliche Betrachtung über Tobys Sittsamkeit an:

[...] I correct the word nature, for this reason, that I may not prejudge a point which must shortly come to a hearing, and that is, Whether this modesty of his was natural or acquired. Whichever way my uncle Toby came by it, 'twas nevertheless modesty in the truest sense of it; and that is, Madam, not in regard to words, for he was so unhappy as to have very little choice in them, — but to things; — and this kind of modesty so possessed him, and it arose to such a height in him, as almost to equal, if such a thing could be, even the modesty of a woman: That female nicety, Madam, and inward cleanliness of mind and fancy, in your sex, which makes you so much the awe of ours.

You will imagine, Madam, that my uncle Toby had contracted all this from this very source; — that he had spent a great part of his time in converse with your sex; and that, from a thorough knowledge of you, and the force of imitation which such fair examples render irresistible, he had acquired this amiable turn of mind.

I wish I could say so, — for unless it was with his sister-in-law, my father's wife and my mother, — my uncle Toby scarce exchanged three words with the sex in as many years; —— no, he got it, Madam, by a blow. —— A blow! —— Yes, Madam, it was owing to a blow from a stone, broke off by a ball from the parapet of a horn-work at the siege of Namur, which struck full upon my uncle Toby's groin. (Sterne, Tristram Shandy, 1.21.90 f.)

Tobys modesty ist der Ansatzpunkt für eine ganze Reihe von Fragen, die Wissen und Wissensvarianten über die modesty ins Spiel bringen: Ist sie von der Natur gegeben oder kulturell erworben? In welcher Beziehung steht sie zum Geschlecht der Person? Ist sie auf der Ebene des Signifikats oder des Signifikanten angesiedelt? Die Antworten auf diese Fragen, die an seiner sexuellen Ahnungslosigkeit ansetzen, ergeben ein Bild seines Charakters: Onkel Tobys Sittsamkeit besteht nicht auf der Ebene der Wortwahl, sondern sie ist 'inhaltlich' und betrifft "things". Hier schon benötigt ein Leser selbst "modesty in regard [...] to things", denn "thing" hat traditionell den Unterton der Referenz auf das Geschlechtsorgan. Sittsamkeit ist zweitens weiblich markiert; daß sie hier einem Mann zukommt, ist besonders zu vermerken und in bezug zur Frage ihres naturgegebenen oder kulturell erworbenen Status zu setzen. Dabei ist Tobys Tugend weder ein Geschenk der Natur noch durch den Umgang mit Frauen auf ihn übergegangen; sie ist das Resultat seiner Leistenverletzung; auch in dieser Hinsicht besteht ein enger, aber nur angedeuteter Zusammenhang zwischen seiner Sittsamkeit und seinem "thing".

Wenn der Text nun Wissen in Anschlag bringt, das Tobys Charakter in dreifacher Hinsicht mit einem Geschlechtsindex versieht, so ist dieses Wissen doch zweifellos nicht Tobys Wissen. Mit dem Ausgehen von sexueller Unbedarftheit, die durch das Hinzutreten weiterer Instanzen in ihr Gegenteil umschlägt, ist ein genereller Verweisungszusammenhang benannt, der im Roman eine entscheidende Rolle spielt und der in der Affirmation der sexuellen Ahnungslosigkeit einen Effekt nachhaltiger Sexualisierung erzielt. So etwa, wenn Toby im Gespräch mit Walter Shandy mögliche Erklärungen für Mrs. Shandys Ablehnung des Beistands von Dr. Slop und ihre Bevorzugung der Hebamme vorschlägt:

[...] it can be out of nothing in the whole world, quoth my uncle Toby, in the simplicity of his heart, — but Modesty: — My sister, I dare say, added he, does not care to let a man come so near her ****. I will not say whether my uncle Toby had completed his sentence or not; —— 'tis for his advantage to suppose he had, —— as, I think, he could have added no One Word which would have improved it. (Sterne, Tristram Shandy, 2.6.119)

Kein einzelnes Wort, das aus dem Personalpronomen "her" ein Possessivpronomen machte, könnte, so der Erzähler, sittsam ergänzt werden. Dabei suggerieren erst die Asterisken, die der Text einfügt, den Ausfall eines Worts mit vier Buchstaben. Die typographisch kenntlich gemachte Auslassung9 legt wesentlich spezifischer, als es etwa ein Gedankenstrich getan hätte, den Ausfall eines four-letter word nahe. Der anschließende Erzählerkommentar nimmt den Zweifel zwischen den verschiedenen Bedeutungen auf, deren eine der gedruckte Text schafft, deren andere aus den von Toby ausgesprochenen Worten entsteht. Die Figur Toby weiß von alledem nichts. Indem der Text ihn als sexuell ahnungslos konstituiert (und daß er "in the simplicity of his heart" spricht, wird ausdrücklich hervorgehoben), entsteht zugleich die ebenfalls unmißverständlich genutzte Möglichkeit, mit dieser Ahnungslosigkeit eine eindeutig sexuelle Bedeutung zu verknüpfen.

Diese Verbindung von sexueller Ahnungslosigkeit und sexualisierter Bedeutung eröffnet den Raum, in dem das Sprechen der Erzählinstanz in Tristram Shandy angesiedelt ist. Die Erzählstimme entscheidet sich nicht zwischen den beiden Varianten ("I will not say whether [...] or not [...]"), sondern nimmt eine Position ein, die es erlaubt, sexuelle Bedeutungen ins Spiel zu bringen, ohne daß sie selbst auf eine definitive Bedeutung festgelegt werden könnte. Dies setzt sich fort in einer Betrachtung über durch kleinste Modifikationen verursachte fundamentale Bedeutungsänderungen, die der Erzähler an die Äußerung Onkel Tobys anschließt:

[...] how does the Poco piu and the Poco meno of the Italian artists; — the insensible more or less, determine the precise line of beauty in the sentence, as well as in the statue! How do the slight touches of the chisel, the pencil, the pen, the fiddle-stick, et caetera, — give the true swell, which gives the true pleasure! — O my countrymen! — be nice; — be cautious of your language; — and never, O! never let it be forgotten upon what small particles your eloquence and your fame depend. (Sterne, Tristram Shandy, 2.6.120)

Die phallischen Konnotationen der Arbeitsgeräte, die bei gekonnter Verwendung zu Schwellen und Lust führen, das alte Wortspiel mit country und cunt und die innige Verknüpfung von Redegewandtheit, Ruf und Kleinigkeiten — die gesamte kunsttheoretische Passage weist eine Doppelbödigkeit auf, die das Sexuelle gerade im augenscheinlich Nicht-Sexuellen entdeckt.

Daß Melvyn New10 diese und ähnliche Passagen aus der Perspektive des Herausgebers, der erklärende Anmerkungen für Leser setzen soll, in ihren Schwierigkeiten beleuchtet, macht auch deutlich, wo das Wissen zu lokalisieren ist, das der Text hier ins Spiel bringt: nicht in den Figuren; auch nicht letzlich in der Erzählstimme, die ja gerade keine eindeutigen Aussagen macht, sondern auf ein offensichtlich anderswo vorhandenes Wissen zugreift. Uncle Tobys Unwissenheit ebenso wie die scheinbar unbewußten sexuellen Konnotationen der Erzählerrede haben ein Pendant im Wissen der Leser. Es ist die ostentative Distanzierung von der geschlechtlichen Bedeutung durch die Erzählstimme, die immer wieder jenes sexuelle Potential ins Spiel bringt, das die Leser gerade im augenscheinlich nicht Sexuellen zu entdecken angehalten sind.

Die Text-Leser-Beziehung und die "dangers of accessory ideas"

Writing, when properly managed, (as you may be sure I think mine is) is but a different name for conversation: As no one, who knows what he is about in good company, would venture to talk all; —— so no author, who understands the just boundaries of decorum and good breeding, would presume to think all: The truest respect which you can pay to the reader's understanding, is to halve this matter amicably, and leave him something to imagine, in his turn, as well as yourself.

For my own part, I am eternally paying him compliments of this kind, and do all that lies in my power to keep his imagination as busy as my own. (Sterne, Tristram Shandy, 2.11.127)

Tristram Shandy versteht das Schreiben programmatisch als den Aufbau von Verweisungszusammenhängen, in denen immer eine Zuleistung der Leser gefordert ist. Der Text initiiert Bedeutungskonstitutionsprozesse, die zu ihrer Vervollständigung auf das Wissen und die Einbildungskraft der Leser angewiesen sind.

Zugleich wird schon früh klar gemacht, daß die einträchtige Aufgabenteilung zwischen Erzähler und Leser bei der Entstehung der Textbedeutung nicht die einzige mögliche Variante ist. Denn der Text legt es ebenso programmatisch darauf an, die Lesererwartungen in die Irre zu leiten:

[...] I set no small store by myself upon this very account, that my reader has never yet been able to guess at any thing. And in this, Sir, I am of so nice and singular a humour, that if I thought you was able to form the least judgment or probable conjecture to yourself, of what was to come in the next page, — I would tear it out of my book. (Sterne, Tristram Shandy, 1.25.101)

Es handelt sich also um einen Text, der Dinge im Dunkeln läßt, teils damit sie erraten werden, teils damit sie gerade nicht erraten werden können. Für beides wurden in der Tat schon früh Beispiele geliefert. Einerseits wird die Leserin wegen ihrer angeblichen Unachtsamkeit dazu verdonnert, ein Kapitel nochmals zu lesen11; der Hinweis auf die Religionszugehörigkeit von Tristrams Mutter, den sie überlesen hat, bahnt dann den Pfad für das Einschieben der kuriosen Stellungnahme der Sorbonne-Theologen zur Frage der Taufe im Mutterleib. Andererseits wurde kurz zuvor schon die Leserin davor gewarnt, auf unzureichender Faktenbasis einen falschen Schluß über das Verhältnis des Erzählers zu der mehrfach von ihm erwähnten Jenny zu ziehen:

I own the tender appellation of my dear, dear Jenny, — with some other strokes of conjugal knowledge, interspersed here and there, might, naturally enough, have misled the most candid judge in the world into such a determination against me. [...] All I contend for, is the utter impossibility, for some volumes, that you, or the most penetrating spirit upon earth, should know how this matter really stands. (Sterne, Tristram Shandy, 1.18.76)

Entscheidend für das Verhältnis von Text und Leser ist also, daß die Leser vor einer beständigen Interpretationsaufgabe stehen, die ohne Garantie für die Richtigkeit des Resultats dieses Interpretationsvorgangs zu erfüllen ist. Erst wenn der Roman tatsächlich zu Ende ist, kann man sicher sein, daß ein bislang gewonnener Eindruck sich nicht etwa im Licht einer neuen unvorhergesehenen Wendung als falsch herausstellt.

In dieser Hinsicht gleicht das Verhältnis der Leser zum Text ihrem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst.

[...] mark, Madam, we live amongst riddles and mysteries — the most obvious things, which come in our way, have dark sides, which the quickest sight cannot penetrate into; and even the clearest and most exalted understandings amongst us find ourselves puzzled and at a loss in almost every cranny of nature's works [...] (Sterne, Tristram Shandy, 4.17.292)

Nicht nur als Leser des Romans Tristram Shandy ist man in der Situation, beständig hinter dem Augenschein anderes, Verborgenes, Verwirrendes vermuten zu müssen. Das Lesen von Tristram Shandy ist nur ein Spezialfall des Lebens in einer Welt, die ganz die gleichen Lücken und Tücken aufweist. Desgleichen kann man sich auch seines Wissens über sich selbst nie sicher sein, wie Yoricks Predigt über Kapitel 13, Vers 18 des Hebräerbriefs ausführt12, findet man doch vor allem solche Übeltaten abscheulich, zu denen man keine Neigung verspürt, während "such of them, as strong inclination and custom have prompted him to commit, are generally dressed out and painted with all the false beauties, which, a soft and a flattering hand can give them" (Sterne, Tristram Shandy, 2.17.147).

Nun haben die Analysen am Ende des vorigen Abschnitts gezeigt, daß es immer wieder geschlechtliche Bedeutungen sind, die den Lesern zu ergänzen überlassen werden. Der Text, vielleicht aber auch die Welt und das Selbst, stellen einen also immer wieder vor die Frage, ob nicht eine bestimmte Aussage eigentlich einen sexuellen Sinn hat. Am eingehendsten wird dieses Problem zu Beginn des fünften Buchs am Beispiel der ungreifbaren sexuellen Bedeutung des Wortes "Whiskers" am Hof von Navarra reflektiert:

[...] La Fosseuse had pronounced the word, not only before the queen, but upon sundry other occasions at court, with an accent which always implied something of a mystery — And the court of Margaret, as all the world knows, was at that time a mixture of gallantry and devotion — and whiskers being as applicable to the one, as the other, the word naturally stood its ground — it gained full as much as it lost; that is, the clergy were for it — the laity were against it — and for the women — they were divided. —— (Sterne, Tristram Shandy, 5.1.341)

Durch den geheimnisvollen Ton, mit dem sie das Wort ausspricht, erweckt La Fosseuse den Eindruck, als verbinde sie noch eine zusätzliche Bedeutung mit dem Wort, und erzeugt dadurch in anderen eine Bereitschaft, nach weiteren Kontexten zu suchen, die dem Wort einen anderen Sinn verleihen würden.13 Der ganze Hof verstrickt sich in Vermutungen. Das Wort hat die untilgbare Assoziation des indefiniten Unkeuschen und erleidet somit genau das Schicksal, das auch Frauen zuteil wird, deren Keuschheit in der Öffentlichkeit kompromittiert wird: "the word was ruined" (Sterne, Tristram Shandy, 5.1.343).

Der Effekt des indefiniten Unkeuschen, das macht der Text in einer mise en abyme klar, entsteht aus dem Verweisungszusammenhang, der die Erwartung weckt, daß einem augenscheinlich nicht sexuellen Sinn ein vom Adressaten der Nachricht zu ergänzender sexueller Sinn zugeordnet ist.

The best word, in the best language of the best world, must have suffered under such combinations. —— The curate of d'Estella wrote a book against them, setting forth the dangers of accessory ideas, and warning the Navarois against them.

Does not all the world know, said the curate d'Estella at the conclusion of his work, that Noses ran the same fate some centuries ago in most parts of Europe, which Whiskers have now done in the kingdom of Navarre? — The evil indeed spread no further then, — but have not beds and bolsters, and nightcaps and chamber-pots stood upon the brink of destruction ever since? Are not trouse, and placket-holes, and pump-handles — and spigots and faucets, in danger still, from the same association? — Chastity, by nature, the gentlest of all affections — give it but its head — 'tis like a ramping and roaring lion. (Sterne, Tristram Shandy, 5.1.344)

Es sind die "dangers of accessory ideas", die Gefahren der Assoziationen, die in den Adressaten ausgelöst werden, welche dafür verantwortlich sind, daß die Keuschheit zum wütenden Raubtier wird.

Mit diesen Gefahren spielt aber nicht nur Tristram Shandy. Sie drohten schon im Ernst den Verfassern und Lesern von Frömmigkeitshandbüchern, und sie prägten die besonders prekäre Kommunikationssituation der Onania. Jeremy Taylor eröffnete den Abschnitt zur Keuschheit in seinem Holy Living mit Ermahnungen, die jedem Leser die Verantwortung dafür aufladen, welche Konsequenzen die Lektüre des Texts für seine Keuschheit haben wird:

Reader stay, and reade not the advices of the following Section, unlesse thou hast a chaste spirit, or desirest to be chaste, or at least art apt to consider whether you ought or no. For there are some spirits so Atheistical, and some so wholly possessed with a spirit of uncleannesse, that they turn the most prudent and chaste discourses into dirt and filthy apprehensions [...]. I have used all the care I could, in the following periods, that I might neither be wanting to assist those that need it, nor yet minister any occasion of fancy or vainer thoughts to those that need them not. If any man will snatch the pure taper from my hand, and hold it to the Devil, he will onely burn his own fingers, but shall not rob me of the reward of my care and good intention, since I have taken heed how to express the following duties, and given him caution how to read them. (Taylor, Holy Living, 73)

Taylor schreibt also gerade aufgrund seiner entschlossenen und bedrohten Bemühung um Keuschheit im ständigen Bewußtsein der sexuellen Stimulierbarkeit durch Texte, auch wenn diese Texte gerade das Gegenteil dessen erreichen wollen, worum es im Tristram Shandy geht. "I have taken heed how to express the following duties", hebt er hervor. Er hat sein Teil beigetragen, indem er die Selbstüberwachung im Geschlechtlichen, die er jedem Christen anempfiehlt, auch zum Prinzip seines Schreibens macht.14 Mittels der vorsichtigen Formulierung und der Implizierung des Geschlechtlichen erfüllt er seine Pflicht zur Sorge um die Keuschheit seiner Leser.

Tristram Shandy spielt mit den Elementen der gleichen Kommunikationssituation. Für die Leser besteht in dieser Situation immer die Alternative von keuschem Ernst und frivoler Obszönität, und der Text trägt in seinen Formulierungen dieser Alternative Rechnung, muß aber die Rezeption letzlich in die Verantwortung der Leser stellen. Er weist dabei zwei entscheidende Unterschiede zu der zitierten Passage aus Holy Living auf, wie etwa folgende Stelle verdeutlicht:

[...] heaven is witness, how the world has revenged itself upon me for leaving so many openings to equivocal strictures, — and for depending so much as I have done, all along, upon the cleanliness of my readers' imaginations.

— Here are two senses, cried Eugenius, as we walked along, pointing with the fore finger of his right hand to the word Crevice, in the fifty-second page of the second volume of this book of books, —— here are two senses, — quoth he. — And here are two roads, replied I, turning short upon him, — a dirty and a clean one, — which shall we take? — The clean, —— by all means, replied Eugenius. Eugenius, said I, stepping before him, and laying my hand upon his breast, — to define — is to distrust. — Thus I triumphed over Eugenius [...] (Sterne, Tristram Shandy, 3.31.225)

Der Text bringt gezielt obszöne Bedeutungen ins Spiel, indem er auf das sexuelle Assoziationspotential im Wissen der Leser zugreift, und weist diese zugleich ausschließlich der Leserphantasie zu. Die Desavouierung der geschlechtlichen Bedeutung fällt leicht, weil sie sich immer wieder nicht als Resultat gezielter textueller Operationen, sondern von Tendenzen und Appetenzen der Leser ausgeben kann. Die Leser von Tristram Shandy stehen also vor einer permanenten Interpretationsaufgabe, als deren Resultat sie eine sexuelle Bedeutung erhalten, die der Text ihnen indessen gerade als das Resultat ihrer eigenen Tendenz, sexuelle Bedeutungen zu sehen, präsentiert. Der Text operiert mithin mit dem 'Fleisch' und dessen beständiger Bereitschaft, das Subjekt unter der Maske der Harmlosigkeit in die Unkeuschheit zu verraten. Die Achtsamkeit der Formulierungen zielt nur noch scheinbar auf die Wahrung der Keuschheit, in Wirklichkeit aber auf die Erzeugung sexueller Bedeutung, als deren Subjekt sich die Leser erfahren sollen; der Text bedient sich im Rahmen einer neuen Strategie der typischen Aspekte des Sprechen im Zeichen der Wahrheit des Geschlechtlichen.

Onkel Tobys Wissen: das Belagern von Festungen

Mit seiner Güte und seiner sexuellen Ahnungslosigkeit ist Toby noch nicht vollständig charakterisiert. Es fehlt der wichtigste Aspekt seines Charakters: sein hobby-horse. Während Toby über das Geschlechtliche ausdrücklich nichts weiß, ist das Befestigungswesen ein Wissensbereich, in dem er Experte ist und dem seine Leidenschaft gehört. Als ehemaliger Offizier, der seit seiner Verwundung vor Namur nicht mehr aktiv ist, verfolgt er den Fortgang des spanischen Erbfolgekriegs und baut mit Unterstützung seines Dieners Trim die verschiedenen Befestigungsanlagen der belagerten Städte nach.

Nun ist das Belagern, das Verteidigen und das Erobern einer Festung ja der traditionelle Bildbereich für die strategische Problematisierung des Geschlechtlichen. Dies mag ein Brief aus dem Spectator nochmals illustrieren, der aus der Zeit nach dem Utrechter Frieden stammt. Nach dem Ende der Kampfhandlungen auf dem Kontinent sind viele ehemalige Offiziere nach England zurückgekehrt und belagern dort die Damen. Die Nummer des Spectator steht unter dem Ovidschen Motto "Militiae species amor est":

Mr. Spectator,
I have assisted in several sieges in the Low Countries, and being still willing to employ my talents as a soldier and engineer, lay down this morning at seven o'clock before the door of an obstinate female, who had for some time refused me admittance. I made a lodgement in an outer parlour about twelve: the enemy retired to her bedchamber, yet I still pursued, and about two o'clock this afternoon she thought fit to capitulate. Her demands are indeed somewhat high, in relation to the settlement of her fortune. But, being in possession of the house, I intend to insist upon carte blanche, and am in hopes, by keeping off all other pretenders for the space of twenty-four hours, to starve her into a compliance. [...] (Spectator No. 566, July 12, 1714)

Toby Shandy der ja — nicht erst nach dem spanischen Erbfolgekrieg, sondern schon Ende der 1690er Jahre — als ausgedienter Soldat nach England zurückkam, dachte nicht daran, seine strategischen Fähigkeiten aus der Soldatenzeit in den Dienst der erfolgreichen Belagerung von schönen Damen oder vorteilhaften Partien zu stellen. Er begann im Gegenteil damit, sich nun erst recht und mit steigender Intensität für die Fortifikation — nicht als Metaphern-, sondern als Literalbereich — zu interessieren. Seinen Ursprung nimmt dieses Interesse in den Problemen, die Toby damit hat, den Hergang seiner Verwundung zu beschreiben. Er läßt sich während seiner Rekonvaleszenz einen Lageplan der Stadt und ihrer Befestigungen besorgen. Damit nimmt sein Interesse für das Befestigungswesen seinen Anfang und wird zu seiner ausschließlichen Präokkupation:

The more my uncle Toby drank of this sweet fountain of science, the greater was the heat and impatience of his thirst, so that, before the first year of his confinement had well gone round, there was scarce a fortified town in Italy or Flanders, of which, by one means or other, he had not procured a plan, reading over as he got them, and carefully collating therewith the histories of their sieges, their demolitions, their improvements, and new works, all which he would read with that intense application and delight, that he would forget himself, his wound, his confinement, his dinner. (Sterne, Tristram Shandy, 2.3.109 f.)

Als Toby die Theorie gemeistert hat und der spanische Erbfolgekrieg in vollem Gange ist, beginnt er zusammen mit seinem Diener Trim, im Bowling Green hinter seinem Haus die jeweils stattfindenden Belagerungen en miniature nachzubauen.

Mit dieser Literalisierung der geschlechtsstrategischen Metaphern ist jedoch die Verbindung des fortifikatorischen Wissens zu einem geschlechtlichen Wissen nicht gänzlich gekappt. Aber ihre Qualität hat sich in signifikanter Weise geändert. Eine gewisse Äquivalenz ist dabei erhalten geblieben. Fortifikatorische und geschlechtliche Bedeutungen haben gemeinsam, daß sie gerade an Stellen, die augenscheinlich in keinem Bezug zum Befestigungswesen bzw. zur Geschlechtlichkeit stehen, besonders hartnäckig und unvermutet auftreten. So vermutet Toby, wenn Dr. Slop in der Küche eine Brücke verfertigt, um Tristrams bei der Geburt beschädigte Nase zu behandeln, es gehe um die Befestigungsanlagen im Bowling Green:

When Trim came in and told my father, that Dr Slop was in the kitchen, and busy in making a bridge, — my uncle Toby [...] took it instantly for granted that Dr Slop was making a model of the marquis d'Hôpital's bridge. — 'Tis very obliging in him, quoth my uncle Toby; — pray give my humble service to Dr Slop, Trim, and tell him I thank him heartily.

Had my uncle Toby's head been a Savoyard's box, and my father peeping in all the time at one end of it, — it could not have given him a more distinct conception of the operations of my uncle Toby's imagination, than what he had [...] (Sterne, Tristram Shandy, 3.26.221)

Walter Shandy merkt sogleich, daß Toby der Ansicht ist, die fragliche Brücke müsse die Zugbrücke ersetzen, welche Teil der Befestigungen im Bowling Green gewesen und kurz zuvor zu Bruch gegangen war. Das Wissen über das Belagerungswesen weist also als permanentes Assoziationspotential dieselben Mechanismen auf wie jenes Wissen, das Toby so auffallend fehlt.

Daß Toby permanent bereit ist, Fortifikatorisches zu assoziieren, hat Walter ihm schon früher, in einer Passage, die weiteren Aufschluß über das Verhältnis von Fortifikation und Geschlechtlichkeit gibt, vorgehalten. Soeben hat Toby ein Gespräch von Dr. Slop und Walter mit einer fortifikatorischen Referenz unterbrochen:

— Talk of what we will, brother, —— or let the occasion be never so foreign or unfit for the subject, — you are sure to bring it in: I would not, brother Toby, continued my father, — I declare I would not have my head so full of curtins and horn-works. — That I dare say you would not, quoth Dr Slop, interrupting him, and laughing most immoderately at his pun. (Sterne, Tristram Shandy, 2.12.129)

Während Tobys Assoziationsbereitschaft permanent auf das Fortifikatorische gerichtet ist, wird dieses seinerseits zum Auslöser eines geschlechtlichen Assoziationspotentials, das nun gerade an der augenscheinlich nicht geschlechtlichen Bedeutung des Fortifikatorischen ansetzt. Die Doppeldeutigkeiten von Bettvorhängen und Insignien des betrogenen Ehemanns suggeriert in diesem Fall Dr. Slop.

Doch bedeutsam ist die Tatsache, daß der Text wieder einen Verweisungszusammenhang aufbaut, in dem einer nicht-geschlechtlichen Bedeutung ein geschlechtlicher Sinn zugeordnet wird, nicht die Person, die den verborgenen geschlechtlichen Sinn ins Spiel bringt. An anderer Stelle, bei der Schilderung des Hergangs, der dazu führte, daß die Brücke zu Bruch ging, ist es Walter selbst, der die Doppeldeutigkeit auskostet. Die Brücke wurde nämlich Opfer einer Mondscheinbesichtigung der Anlagen durch Trim und Mrs. Bridget. Trim erzählt auf Aufforderung Walters:

[...] I was shewing Mrs Bridget our fortifications, and in going too near the edge of the fossé, I unfortunately slipped in. — Very well, Trim! my father would cry, — (smiling mysteriously, and giving a nod, — but without interrupting him) — and being linked fast, an' please your honour, arm in arm with Mrs Bridget, I dragged her after me, by means of which she fell backwards soss against the bridge, — and Trim's foot, (my uncle Toby would cry, taking the story out of his mouth) getting into the cuvette, he tumbled full against the bridge too. — It was a thousand to one, my uncle Toby would add, that the poor fellow did not break his leg. —— Ay truly! my father would say, — a limb is soon broke, brother Toby, in such encounters. — And so, an' please your honour, the bridge, which your honour knows was a very slight one, was broke down betwixt us, and splintered all to pieces. (Sterne, Tristram Shandy, 3.24.218)

Nicht nur metonymisch, als Ort heimlicher geschlechtlicher Betätigung, sondern auch metaphorisch werden die Befestigungsanlagen sexualisiert: Daß Trim unversehens in den Graben rutscht, mag für das Eindringen seines Penis, die zersplitterte Brücke für die Defloration Bridgets stehen. Die koitalen Assoziationen verstärken sich, wenn Walter im Anschluß in ein scherzhaftes Lob der Belagerungswerkzeuge der Antike, darunter allen voran der "Battering-rams"15 ausbricht. Das aus seiner traditionellen Metaphorik gelöste strategische Wissen erfährt eine Sexualisierung über die gezielte Lenkung von "accessory ideas" und macht eine Veränderung mit, die jener vergleichbar ist, die für das Wissen über Leidenschaften und Geschlecht konstatiert wurde: Sie ist nicht mehr Handlungsanleitung, sondern ein Element des Charakters der Figur.

Die Verknüpfung von Geschlechtlichkeit und Befestigungswesen beginnt damit, daß das Fortifikationsinteresse aus derselben Leistenwunde erwächst, die auch Tobys modesty erzeugte. Sie setzt sich fort in der erotisierten Erwartung, mit der Toby der ersten Realisierung seines hobby-horse entgegenstrebt16 und die mit dem Ende des Kriegs einer erotischen Empfänglichkeit Platz macht. Sie gipfelt in Tobys Versprechen: "You shall see the very place, Madam [...] You shall lay your finger upon the place" (Sterne, Tristram Shandy, 9.20.594) — die Witwe hofft, Toby werde ihr erlauben, sich durch Augenschein von der Heilung seiner Leistenverletzung zu überzeugen, Toby aber läßt die Karte von Namur kommen: "My uncle Toby measured off thirty toises, with Mrs Wadman's scissars, from the returning angle before the gate of St Nicolas; and with [...] virgin modesty laid her finger upon the place [...] (9.26.607).

Das Fortifikatorische ist also nicht nur in dem Sinne in Tobys Charakter Äquvalent des Geschlechtlichen, daß es sich bei jeder Doppeldeutigkeit präsentiert, sondern es ist selbst Träger einer verborgenen geschlechtlichen Bedeutung. Der Bezug dieser beiden Bereiche ist in der Forschung schon lange gesehen worden. Robert Alter stellt fest: "all the hobbyhorsing-around is sublimated sexual activity" (Alter 1968: 317) und fügt hinzu: "Sterne's awareness of this implication of his own imagery is clearest in his treatment of Uncle Toby's passion for fortification".17 Doch geht man sicherlich fehl, wenn man in der Tatsache, daß Tobys Charakter von dem Zusammenspiel einer unbewußten Sexualität und einer bewußten Leidenschaft für das Befestigungswesen geprägt ist, eine Art 'Beweis' für Freuds Konzept der Sublimierung erblicken wollte: Nicht um die Wahrheit dieses Konzepts muß es der Analyse gehen, sondern um dessen Ermöglichungsbedingungen. Sterne schafft mit Toby eine Figur, die Ansatzpunkte für eine Reihe von Interpretationsverfahren bietet, die gerade in nicht geschlechtlich markierten Bewußtseinsbereichen verdeckte sexuelle Bedeutungen erzeugen. Die Fragen, wie das Geschlechtliche in diese unbewußte Position gerät, und wie seine Zusammenhänge mit der Befestigungswissenschaft zu denken sind, beantwortet der Text nicht mit der Freudschen Trieblehre, der Verdrängung und der Sublimierung des Geschlechtlichen. Der Text gehört in die Genealogie solcher Konzepte, insofern er mit der Einladung zu Interpretationsvorgängen operiert, die das Geschlechtliche als verborgenen Kern der Persönlichkeit und vor allem als jene Instanz, die die Selbstransparenz des Subjekts uneinholbar untergräbt, erscheinen lassen. Er schafft Konstellationen, die nach einem Wissen verlangen, in dessen Rahmen die Geschlechtlichkeit ein tiefer und schwer erkennbarer und zugleich zur Identitätskonstitution einladender Faktor ist.

In der historischen Perspektive der vorliegenden Analyse zeigt Tobys hobby-horse den qualitativen Wandel des Wissens über Leidenschaften und Geschlecht auf besonders pointierte Weise: Nicht nur gehört ein Wissen über Tobys Asexualität, das zu vielfacher sexueller Bedeutungskonstitution einlädt, zu den entscheidenden Merkmalen, die Tobys Charakter ausmachen, sondern die Strategie hat in diesem Charakter einen symptomatischen neuen Platz bekommen. Sie ist jetzt das Wissen, das als Träger einer verdeckten und zu entschlüsselnden sexuellen Wahrheit dieses Subjekts anzusehen ist. Das Geschlechtliche aber ist endgültig nicht mehr der Bereich strategischen Handelns, sondern es wird über eine Reihe von Interpretationsakten erkennbar als Instanz, die das Subjekt zutiefst determiniert und die zugleich dem Subjekt selbst nicht transparent ist.


  1. Vgl. Sterne, Tristram Shandy, 8.34.563 ff.
  2. Er ist etwa im Besitz einiger hinterlassener Dokumente von Walters Idiosynkrasien, auf die er gelegentlich zurückgreift (vgl. Sterne, Tristram Shandy, 5.12.362).
  3. Zu den zeitgenössischen gynäkologischen und obstetrischen Kontroversen, auf die der Roman Bezug nimmt, vgl. Cash (1968).
  4. Vgl. etwa Sterne, Tristram Shandy, 5.16.366.
  5. Vgl. Burckhardt (1961).
  6. Die Welt vermutet allerdings, von Dr. Slops Darstellung des Unfalls angeregt, eine deutlich schwerwiegendere Verletzung.
  7. Wenn noch Religiöses im Spiel ist, so zeigt die Anfrage jenes französischen Geburtshelfers bei den Theologen der Sorbonne hinsichtlich der Möglichkeit einer Taufe im Mutterleib "par le moyen d'une petite canulle " (Sterne, Tristram Shandy, 1.20.84) die Richtung an, aus der das relevante Wissen kommt. Es hat viel eher Züge der Dokumente und Aussagen verschiedenster Art über das die Onanie und Verwandtes Betreffende, welche die Onania in ständig wachsendem Ausmaß zusammenstellt.
  8. Michael Gassenmeier spricht von Toby als von einem "empfindsamen Kastraten" (Gassenmeier 1972: 58) und hebt in seiner Herausarbeitung des Charakters von Toby besonders die Spannung zwischen seiner plakativen Menschenfreundlichkeit und seiner Misogynie heraus (vgl. Gassenmeier 1972: 58-70).
  9. Vergleichstellen zeigen, daß in Tristram Shandy die Asterisken mit großer Akkuratheit gesetzt werden. Vgl. etwa Susannahs Aufforderung an den fünfjährigen Tristram: "[...] cannot you manage, my dear, for a single time, to **** *** ** *** ****** [piss out of the window, A.K]?" (Sterne, Tristram Shandy, 5.17.369).
  10. Vgl. New (1984).
  11. Vgl. Sterne, Tristram Shandy, 1.20.83.
  12. Vgl. Sterne, Tristram Shandy, 2.17.139 ff.
  13. Brady (1970) hat festgestellt, daß sich diese Unsicherheit fortsetzt: "[...] it is amusing to watch editors and critics dodge 'whiskers'. All are confident that nose equals penis, all recognize that 'whiskers' has a dirty meaning, but no one seems to want to say exactly what it is." (Brady 1970: 44). Brady sieht als Bedeutung je nach Kontext Schamhaar oder Hoden, aber er weist auch darauf hin, daß gerade die Unmöglichkeit, eine sichere und konsistente Bedeutung zu etablieren, das Wesentliche an der Wirkung der Episode ist.
  14. Auch der Verfasser der Onania schrieb ja in dem Bewußtsein, daß die Vorstellungen, die seine Leser mit seinen Aussagen verbinden könnten, die Gefahr der Unkeuschheit mit sich brachten und nahm dabei explizit auf Taylor bezug (vgl. Onania 2 und oben S. 121 ff).
  15. S. Sterne, Tristram Shandy, 3.24.218 f.; "Battering-ram" gehört auch zu den Penis-Metaphern in Fanny Hill (vgl. FH 118).
  16. "Never did lover post down to a beloved mistress with more heat and expectation, than my uncle Toby did, to enjoy this self-same thing in private [...]" (Sterne, Tristram Shandy, 2.5.118).
  17. Alter (1968) p. 317; auch Frank Brady diskutiert die sexuellen Implikationen von Tobys hobby-horse (vgl. Brady 1970: 41 f.).