Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Opazität und Erzählstrategie

Nicht nur im Tristram Shandy, sondern auch in den andern Romanen dieses Zeitraums steht die Charakterschilderung, die Problematisierung der Wahrheit des Subjekts im Mittelpunkt der Thematisierung des Geschlechtlichen. So läßt sich für die anderen Romane der Zeit zeigen, daß Opazität und Interpretationsbedarf zu den entscheidenden erzähltechnischen Mitteln gehören, mit denen diese Charakterschilderung unter Zugriff auf Wissen und Assoziationspotential der Leser arbeitet.

Erzählinstanz und Interpretationsbedarf im Vicar of Wakefield

Im Vicar of Wakefield ist es vor allem die Erzählsituation, in der die Opazität zum Einsatz kommt. Der Vicar als Erzähler ist einerseits Interpretationsinstanz, andererseits wird er auch zum Gegenstand von Interpretationsvorgängen. So führt er immer wieder selbst modellhaft Entschlüsselungsverfahren vor. Mit folgenden Worten beschreibt er etwa die Reaktion von Miss Arabella Wilmot auf das unverhoffte Wiedersehen mit George:

Miss Wilmot's reception [of George] was mixed with seeming neglect, and yet I could perceive she acted a studied part. The tumult in her mind seemed not yet abated: she said twenty giddy things that looked like joy, and then laughed loud at her own want of meaning. At intervals she would take a sly peep at the glass, as if happy in the consciousness of unresisted beauty; and often would ask questions, without giving any manner of attention to the answers. (Goldsmith, Vicar, 113 f.)

Eingeleitet von einem auf die Interpretationsinstanz verweisenden "I could perceive" werden die Symptome der Verliebtheit, die Miss Wilmot in ihrem Verhalten gegenüber George an den Tag legt, unmißverständlich aufgelistet.

Ein Deutungsbedarf liegt offensichtlich auch in bezug auf die keimenden Neigungen der Töchter zu Mr. Burchell bzw. zu Squire Thornhill vor. Nach dem ersten Kennenlernen befragt der Vicar die beiden jungen Frauen nach ihrer Meinung über den Squire. Sophia spricht ein oberflächliches Lob aus, Olivia aber beteuert, sie könne nichts an ihm finden. Der Vicar decodiert ihre Aussagen: "These two [...] speeches I interpreted by contraries. I found by this, that Sophia internally despised, as much as Olivia secretly admired him." (Goldsmith, Vicar, 26). Auch wenn die Familie über Mr. Burchell spricht und dessen deutliche Bemühungen um Sophia zur Sprache kommen, zeigt Sophia Reaktionen, die dem Vicar zu denken geben: "The readiness with which she undertook to vindicate herself, and her blushing, were symptoms I did not internally approve [...]" (Goldsmith, Vicar, 31). Wenn es um die geschlechtlichen Neigungen seiner Töchter geht, legt der Vicar also ein Interpretationsvermögen an den Tag, das nicht bei den Aussagen der beiden über ihre Gefühle stehenbleibt. Er macht vielmehr diese Aussagen zur Basis von interpretativen Akten, als deren Resultat die wahren Gefühle der beiden erkennbar werden. Aussagen, Symptome und Reaktionen werden zu einem Gesamtbild vereinigt.

Die Interpretationsarbeit, die der Vicar für die Leser leistet, ist aber nur eine Seite des Entschlüsselungsbedarfs, den der Roman inszeniert. Die Figur des Erzählers wird selbst Gegenstand von Interpretationsbedarf. Schon früh berichtet der Vicar beispielsweise von der Schönheit seiner Töchter mit folgenden Worten: "Mere outside is so very trifling a circumstance with me, that I should scarce have remembered to mention it had it not been a general topic of conversation in the country" (Goldsmith, Vicar, 4). Wie schön die Töchter tatsächlich waren und in welchem Maße sie dieser Schönheit wegen Gesprächsthema im ganzen Land waren, bleibt offen. Denn die Erklärung, mit der der Vicar sich von einer eigenen Valorisierung dieser Schönheit distanziert, soll den geschmeichelten Vaterstolz verdecken und verrät ihn gerade dadurch als den eigentlichen Anlaß zu einer solchen Aussage. Eine ähnliche Interpretationsleistung der Leser wird verlangt, wenn der Vicar über die zukünftige Braut seines Sohnes George sagt: "Miss Arabella Wilmot was allowed by all (except my two daughters) to be completely pretty" (Goldsmith, Vicar, 7). Hier scheint der Seitenhieb auf die kleine Eifersüchtelei, die wohl dafür verantwortlich ist, daß seine Töchter die Schönheit von Georges Braut nicht ohne Einschränkungen gelten lassen, vom Vicar zur Charakterisierung seiner Töchter eingestreut und nicht vom Text zur Distanzierung von der Perspektive des Ich-Erzählers gesetzt. Es bleibt, gleich welche der beiden Möglichkeiten im Einzelfall die wahrscheinlichere ist, festzuhalten, daß der Text die Leser stets aufs neue vor das Problem stellt, zu erkennen, welche dieser beiden Perspektiven (der Vicar als ironischer Erzähler und der Vicar als ironisierte Figur) aktualisiert ist. Es wird ein Interpretationsbedarf signalisiert; aufmerksame Leser sind gefordert, ihr eigenes Deutungsvermögen zu mobilisieren und diese Ergänzung in der einen oder anderen Weise vorzunehmen.

Das Wissen um geheime erotische Motivationen spielt dabei eine bedeutsame Rolle, wie etwa die Szene nach der Rettung Sophias durch Burchell deutlich macht: "Her gratitude may be more readily imagined than described; she thanked her deliverer more with looks than with words, and continued to lean upon his arm, as if still willing to receive assistance." (Goldsmith, Vicar, 18) Merkt der Vicar nicht, daß Sophias Anlehnungsbedürftigkeit neben der Dankbarkeit noch ein stärkeres Motiv hat, oder will er gerade dies andeuten? Ironisiert er das Verhalten der jungen Leute, oder wird er selbst ironisiert? Der Deutungsbedarf besteht.

Zweifellos setzt der Text die größere Einbeziehung des Deutenden durch das Eröffnen eines Deutungsbedarfs nicht nur in bezug auf das Erotische ein, sondern sowohl generell als Erzählstrategie als auch innerfiktional bei Fragen der Vertrauenswürdigkeit von Figuren. Nicht umsonst gibt es die streckenweise sehr erfolgreichen Betrüger im Roman. Insgesamt ergibt sich das Bild eines hohen Interpretationsbedarfs: innerhalb der trauten Familiengemeinschaft, im Umgang mit Fremden, in der Beziehung zwischen Text und Leser.

Opazität im Man of Feeling

Auch Harley hat im Umgang mit Fremden Interpretationsprobleme und fällt gelegentlich der Unzuverlässigkeit seiner physiognomischen Deutungsmethoden zum Opfer.1 Und auch die beiden Merkmale der sich selbst verborgenen Geschlechtlichkeit und der Implizierung von geschlechtlicher Bedeutung, die die Leser zur Anwendung von Entschlüsselungsverfahren einladen, finden sich auch im Man of Feeling prominent verwendet. Harleys schon herausgearbeitete geschlechtliche Identität steht im Zentrum der Wissensermittlungsverfahren, die der Text aktiviert. Die Überschrift des ersten einschlägigen Kapitels lautet geradeheraus: "The Man of Feeling in love" (Mackenzie, Man of Feeling, 14). Im Text ist dann jedoch umspielend von "some tenderer feelings in the bosom of Harley, than [...] gratitude" (Mackenzie, Man of Feeling, 14) die Rede. Nach einer Beschreibung der Schönheit und seelischen Vollkommenheit Miss Waltons fährt der Erzähler fort:

It would be trite to observe the easy gradation from esteem to love; in the bosom of Harley there scarce needed a transition; for there were certain seasons when his ideas were flushed to a degree much above their common complexion. In times not credulous of inspiration, we should account for this from some natural cause; but we do not mean to account for it at all; it were sufficient to describe its effects; but they were sometimes so ludicrous, as might derogate from the dignity of the sensations which produced them to describe. (Mackenzie, Man of Feeling, 17)

Die hoch allusive Weigerung des Erzählers, eine Erklärung für Harleys hochgetriebene Vorstellungen zu geben, verbirgt angesichts des als kulturelles Gemeingut ausgewiesenen Wissens über "the easy gradation from esteem to love", das bei den Lesern vorausgesetzt werden kann, nichts mehr. Worum es geht, ist durch die Überschrift bereits klar, und die Umschreibungen dienen so eher der ausführlichen Umspielung der Verliebtheit des Protagonisten denn ihrer Verhüllung. Wenn die Erzählstimme sagt, "we do not mean to account for it at all", so bleibt trotzdem kein Zweifel daran, daß Harleys Verliebtheit der implizite Grund für sein Verhalten ist. Es hat den Anschein, als sei von den Lesern zu erwarten, daß sie im Impliziten das Geschlechtliche vermuten, und als sei das Implizieren schlicht die Art, wie die Erzählinstanz über das Geschlechtliche zu sprechen habe.

Die Schwierigkeit beim Erkennen des Geschlechtlichen ist Teil von dessen Konventionalität. Dies belegt auch die Art, in der erzählt wird, daß Harleys Tante als einziges Haushaltsmitglied nichts von seiner Liebe zu Miss Walton ahnt:

[...] indeed it may seem odd that she was the only person in the family who had no suspicion of his attachment to Miss Walton. It was frequently the matter of discourse amongst the servants: perhaps her maiden coldness — but for those things we need not account. (Mackenzie, Man of Feeling, 113)

Die Wahrnehmungsfähigkeit der Tante ist eine Funktion ihres Charakters; als 'alte Jungfer' kennt und erkennt sie die Liebe nicht. Das Geschlechtliche ist nicht nur der Tante verborgen, auch die Erzählinstanz verbirgt es scheinbar. Doch die Verweigerung ("for those things we need not account") verstellt nicht die Verständlichkeit der Diagnose: "maiden coldness"; sie scheint lediglich der konventionellen Implizierung des Geschlechtlichen zu entsprechen. Die Opazität ist wie auch in den anderen Romanen zugleich der Gegenstand eines Wissens über die Opazität des Geschlechtlichen und die Modalität Verfahren zur Konstitution von geschlechtlicher Bedeutung.


  1. Vgl. Mackenzie, Man of Feeling 43 ff. und 51 ff.