Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

A Sentimental Journey: Subjekt und Interpretationsverfahren

Auch die Sentimental Journey weist die beiden wesentlichen Züge der in diesem Kapitel analysierten Romane auf: Erstens ist die Identität des Protagonisten und Ich-Erzählers Yorick zutiefst mit seiner Geschlechtlichkeit verknüpft. Yorick ist durch permanente Erotisierung charakterisiert: "[...] having been in love with one princess or another almost all my life, and I hope I shall go on so, till I die, being firmly persuaded, that if ever I do a mean action, it must be in some interval betwixt one passion and another [...]" (Sterne, Sentimental Journey, 57). Nicht die Person, die eine erotische Stimulation auslöst, nicht ein bestimmtes Verhalten, sondern das Liebesgefühl ist es, auf das der Sprecher sein Selbstgefühl gründet.

Zweitens arbeitet auch dieser Text mit dem Assoziationspotential der Leser und baut seine Interpretationseinladungen auf der ostentativen Verhüllung des Geschlechtlichen auf. Die Leser sind zur Konstitution sexueller Bedeutung eingeladen, indem gezielte Zweideutigkeiten ins Spiel gebracht werden. Berühmtestes Beispiel ist die Szene mit der fille de chambre, deren zwei Phasen "Temptation" und "Conquest"1 sowohl als Abfolge von Versuchung und Eroberung des Zimmermädchens oder als Versuchung und Überwindung der Versuchung gelesen werden können. Yoricks Apostrophe an den "great governor of nature" paßt auf beide Fälle:

Wherever thy providence shall place me for the trials of my virtue — whatever is my danger — whatever is my situation — let me feel the movements which rise out of it, and which belong to me as a man, and if I govern them as a good one, I will trust the issues to thy justice [...] (Sterne, Sentimental Journey, 118)

Fordert Yorick hier, nicht wegen erotischer Regungen, für die er nicht verantwortlich ist, verurteilt, sondern nach seinem moralischen Verhalten im Angesicht solcher Gefühle beurteilt zu werden? Oder sind die aufsteigenden Bewegungen der Männlichkeit solcher Art, daß ihre "issues" als mögliche Nachkommenschaft zu verstehen sind, deren sich die Gerechtigkeit des Schöpfers annehmen soll? Auch das Verschließen der Tür und das Einpacken des Schlüssels, das sich an das Verlassen des Zimmers anschließt, insinuiert neben dem wörtlichen Sinn die Sexualsymbolik von Schloß und Schlüssel.

Und doch unterscheidet sich die Sentimental Journey sowohl hinsichtlich der Weise, wie Yorick als sexuelles Subjekt konstituiert wird, als auch in den Beziehungen, in deren Rahmen Interpretationsverfahren eingesetzt werden, von den bislang in diesem Kapitel besprochenen Romanen. Denn für Yorick selbst ist diese identitätskonstitutive Geschlechtlichkeit nicht wie für Toby verborgen. Yorick ist nicht vor allem Gegenstand der Interpretation im Rahmen von Interpretationsvorgängen, die seine Identität betreffen und über die er keine Kontrolle hat; als Erzähler ebenso wie in der Interaktion mit den anderen Romanfiguren ist er es, der die Opazitäten ins Spiel bringt und die Interpretationsvorgänge lenkt.

Unter dem Stichwort der short hand thematisiert Yorick ausdrücklich die Rolle des Impliziten in der Interaktion. Anlaß sind zunächst die beiderseitigen Verbeugungen, die Yorick mit einem französischen Offizier tauscht, auf den er im Theater trifft. Der Erzähler referentialisiert die Gesten und schließt dann eine allgemeine Betrachtung über nonverbale Kommunikation an:

There is not a secret so aiding to the progress of sociality, as to get master of this short hand, and be quick in rendering the several turns of looks and limbs, with all their inflections and delineations, into plain words. For my own part, by long habitude, I do it so mechanically, that when I walk the streets of London, I go translating all the way; and have more than once stood behind in the circle, where not three words have been said, and have brought off twenty different dialogues with me, which I could have fairly wrote down and sworn to. (Sterne, Sentimental Journey, 79)

Das Hervorheben nicht des Funktionalen (daß man sich versteht, ohne alles verbal explizit zu machen), sondern gerade der restlosen Referentialisierbarkeit führt allerdings in die Irre und ermöglicht den Anschluß jenes Beispiels, in dem nicht nur die Interpretationsfähigkeit der Beteiligten, sondern auch diejenige der Leser wieder gefordert ist, und die funktioniert, indem das Entscheidende implizit belassen wird.

Denn es wird zur Illustration ein weiteres Beispiel eingeschoben, das auf den Aufenthalt Yoricks in Italien vorausgreift. Yorick schildert zunächst das Durcheinander, zu dem ein unerwartetes Aufeinandertreffen mit einer Dame auf einer Treppe führt. Jeder Ausweichversuch (gleich ob aufrichtig oder mit Hoffnung auf den tatsächlichen Effekt gemacht) führt zu größerer Verwirrung. Das beiderseitige Erröten ist das erste physische Symptom dafür, daß man sich der Situation bewußt geworden ist. Was hier im Kommunikationsmedium der short hand verhandelt wird, ist offensichtlich eine erotische Kontaktaufnahme. Das unerwartete Zusammentreffen und der beinahe zustandegekommene körperliche Kontakt, den die vergeblichen Ausweichversuche nur intensivieren, führen zu einer Verwirrung, die von erotischer Stimulierung zeugt. Schließlich gelangt die Dame an Yorick vorbei, und nun beginnt das eigentliche non-verbale Kommunizieren:

I had no power to go into the room, till I had made her so much reparation as to wait and follow her with my eye to the end of the passage — She looked back twice, and walked along it rather side-ways, as if to make room for anyone coming upstairs to pass her — No, said I — that's a vile translation: the Marquesina has a right to the best apology I can make her; and that opening is left for me to do it in — so I ran and begged pardon for the embarrassment I had given her, saying it was my intention to have made her way. She answered, she was guided by the same intention towards me — so we reciprocally thanked each other. (Sterne, Sentimental Journey, 79 f.)

Dieser Austausch setzt sich fort, bis man die Kutsche der Dame erreicht:

[...] Upon my word, Madame, said I, when I had handed her in, I made six different efforts to let you go out — And I made six efforts, replied she, to let you enter — I wish to heaven you would make a seventh, said I — With all my heart, said she, making room [...] (Sterne, Sentimental Journey, 80)

Zwei Interpretationsrelationen sind in dieser Episode übereinandergelagert. Zum einen Yoricks Interpretation des Verhaltens der Marchesina: Diese gibt ihm dadurch, daß sie Platz läßt und sich zweimal umwendet, zu erkennen, daß sie den begonnenen Kontakt fortsetzen möchte, und Yorick entspricht diesem Wunsch. Zum anderen überläßt Yorick als Erzähler aber die Ergänzung des tatsächlichen erotischen Ablaufs seinen Lesern. Er übersetzt gerade nicht, wie es in seiner Definition der short hand heißt, "the several turns of looks and limbs, with all their inflections and delineations, into plain words" (Sterne, Sentimental Journey, 79), sondern baut auf die Fähigkeit der Leser, die erzählten Verhaltensweisen selbst als short hand zu lesen und für sich "into plain words" zu übersetzen. Denn natürlich ist es nicht der Wunsch, der Dame Wiedergutmachung zu leisten, der Yorick dazu veranlaßt, ihr nachzublicken, sondern die geschlechtliche Stimulation, die stattgefunden hat. Natürlich ist es weder der Wunsch, einem etwaigen Entgegenkommenden Platz zu machen, der die Marchesina ein wenig seitlich gehen läßt — die Möglichkeit wird vom Erzähler selbst als "vile translation" verworfen —, noch auch das Bedürfnis nach einer ausführlicheren Entschuldigung, dem Yorick sich nun zu folgen beeilt. Man verständigt sich über den beiderseitig empfundenen Wunsch nach einer erotischen Annäherung, den das Aufeinandertreffen ausgelöst hat und über dessen Realisierung sich der Erzähler in ein wissendes Schweigen hüllt: "I will only add, that the connection which arose out of that translation, gave me more pleasure than any one I had the honour to make in Italy" (Sterne, Sentimental Journey, 80).

Yorick behält auch sonst als Figur und als Erzähler die Kontrolle über die geschlechtliche Bedeutungskonstitution; alle Interpretationsvorgänge, deren Gegenstand er ist, hat er selbst durch Implizierung von geschlechtlicher Bedeutung ins Werk gesetzt. Die Episode mit der "beautiful Grisset" mag dies illustrieren. Der ganze Vorgang scheint sich dem Zufall zu verdanken ("I walked forth without any determination of where to go — I shall consider of that, said I, as I walk along", Sterne, Sentimental Journey, 73). Doch was folgt ist nicht ganz so planlos: "I had given a cast with my eye into half a dozen shops as I came along in search of a face not likely to be disordered by [...] an interruption" (Sterne, Sentimental Journey, 73). Yorick wählt also die Frau, die er anspricht, sorgfältig aus, und auch sie scheint bereit, seine Erkundigung nach dem Weg zur Opéra comique als Anlaß zu einem intensiven Flirt zu behandeln. Von der wiederholten Wegbeschreibung über das Warten auf den Jungen, der Yorick geleiten soll; die Blicke, die leisen Berührungen, das Fühlen des Pulses, das auch beim unzeitigen Auftreten des Gatten nicht unterbrochen wird; bis zu Yoricks spontanem Entschluß, Handschuhe zu erwerben, als sein Aufbruch sich schon fast nicht mehr aufschieben läßt: Die ganze Szene steht im Zeichen der kontrollierten Erotisierung und der stummen Komplizität der beiden Beteiligten. So heißt es etwa:

There are certain combined looks of simple subtlety — where whim, and sense, and seriousness, and nonsense, are so blended, that all the languages of Babel set loose together could not express them — they are communicated and caught so instantaneously, that you can scarce say which party is the infecter. (Sterne, Sentimental Journey, 77)

Sicherlich bricht die erotische Situation in dem Moment ab, in dem der äußerliche Rahmen die Trennung verlangt.2 Aber auffallend an der Szene ist nicht, daß eine Erkundigung nach dem Weg nicht im Geschlechtsverkehr mündet, sondern daß die Beteiligten Mittel ins Werk setzen, mit denen eine originär nicht geschlechtliche Situation eine geschlechtliche Dimension erhält. Nur wer die verdeckt geschlechtliche Qualität von nicht-geschlechtlichen Situationen schon als selbstverständlich erachtet, kann sich fragen, was Yorick hemmt, und warum er Situationen sucht, die keine 'Erfüllung' erlauben. Im Text selbst gibt es keine Interpretationsanweisungen, die solche Fragen hinsichtlich der Wahrheit des Subjekts Yorick involvieren. Dieser sagt seine Wahrheit selbst aus3 oder läßt sie aus Signalen, die er selbst gibt, erraten, und eine pathologische Sexualität ist dabei in keinem Fall als Antwort vorgesehen.

Yorick reflektiert vielmehr den kontrollierten Einsatz des verborgenen Geschlechtlichen. Er entwickelt explizit — und in Abgrenzung gegen eine als Merkmal der Franzosen verstandene offene Kundgabe der erotischen Annäherung — eine Strategie des opaken geschlechtlichen Kontakts, die sein Vorgehen in geschlechtlich markierten Situationen leitet:

[...] they [the French] have certainly got the credit of understanding more of love, and making it better than any other nation upon earth: but for my own part I think them errant bunglers, and in truth the worst set of marksmen that ever tried Cupid's patience.

[...]

[...] What a want of knowledge in this branch of commerce a man betrays, whoever lets the word come out of his lips, till an hour or two at least after the time, that his silence upon it becomes tormenting. A course of small, quiet attentions, not so pointed as to alarm — nor so vague as to be misunderstood, — with now and then a look of kindness, and little or nothing said upon it — leaves Nature for your mistress, and she fashions it to her mind. —

Then I solemnly declare, said the lady, blushing — you have been making love to me all this while. (Sterne, Sentimental Journey, 49 f.)

Der Aufbau von Spannung über die aufgeschobene Erklärung und eine Vielzahl kleiner Signale, die nur den Drang zum Geschlechtlichen hin vergrößern, sind die Mittel, die Yorick einsetzt. Er schafft so einen Interpretationsbedarf, dem ja auch die abschließende Erklärung der Dame (vor der Remisentür) antwortet. Hätte Yorick selbst begonnen, von Liebe zu sprechen, wie das die Franzosen tun, er wäre ein "errant bungler". Yorick erzielt Wirkungen im Geschlechtlichen, indem er dessen Opazität einsetzt und die geschlechtliche Bedeutung aus den Interpretationsverfahren entstehen läßt, in deren Auslösung seine Geschicklichkeit besteht.

Der Unterschied zwischen Yorick und Toby besteht mithin nicht in der Verborgenheit des Geschlechtlichen — diese gehört zur Qualität des Wissens, das für beide gilt; der Unterschied besteht in der Kontrolle über die Interpretationsverfahren, die an dieser Opazität ansetzen.


  1. Vgl. Sentimental Journey, 115 ff. und 118; A. Alvarez weist in der Einführung zu der hier verwendeten Ausgabe der Sentimental Journey detailliert diese Doppeldeutigkeit auf (vgl. Sentimental Journey, 15 ff.).
  2. Man könnte sogar vermuten, daß dieser Abbruch in dem Moment erfolgt, in dem Yorick eine Erektion verspürt: "she had a quick black eye, and shot through two such long and silken eye-lashes with such penetration, that she looked into my very heart and reins - It may seem strange but I could actually feel she did -" (Sentimental Journey, 77).
  3. Vgl. das Zitat (Sentimental Journey, 57) zu Beginn dieses Abschnitts.