Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Historischer Kontext, historische Linien: die Repressionshypothese als Form der Problematisierung

Literaturgeschichte im Kontext des Sexualitätsdispositivs

Folgt man dem Ansatz, auf dem die Analysen der vorausgegangenen fünf Kapitel ruhen, so läßt sich auch die Frage, aus welchem Grund man dieses Wissen über Leidenschaften und Geschlecht sowie die jeweiligen Modalitäten seines Einsatzes vor allem unter dem Aspekt der Verdrängung und Unterdrückung der Sexualität betrachtete, neu in den Blick nehmen. Daß man von einem wahren Wissen über Leidenschaften und Geschlecht ausging (Hugo Friedrich sprach vom "normalen Gesetz des Empfindungslebens"), an dem das Denken, Sprechen und Handeln der empfindsamen Figuren dann gemessen wurde, machte bereits die Skizze des traditionellen Bilds der Empfindsamkeit zu Beginn des ersten Kapitels deutlich. Diese Wahrheit war nicht mehr dieselbe, die in den Texten selbst eine Rolle spielt. Sie hatte sich in langen Kontroversen, die in unterschiedlichen Diskursen ausgetragen wurden, entwickelt und gewandelt, und sie hatte in einer psychoanalytisch formulierten Ökonomie der Triebe eine kanonische Form gefunden. Aber die Position, die in der Empfindsamkeit vor allem ein Repressions- und Kompensationsphänomen erblickt, hat offensichtlich, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, eine fundamentale Gemeinsamkeit mit den empfindsamen Texten: die Problematisierung von Leidenschaften und Geschlecht unter dem Aspekt der Wahrheit. Die Empfindsamkeit wie ihre traditionelle Interpretation in der Literaturwissenschaft lassen sich unterschiedlichen Phasen dessen zuordnen, was Foucault als das Sexualitätsdispositiv bezeichnet hat.

Daher rühren die verblüffenden Parallelen, die sich gelegentlich zwischen der Wahrheit des Interpreten und der Wahrheit der Romane auftun und die als seltsame Hellsichtigkeit eines Autors erschienen, der noch keine elaborierte Sexualwissenschaft zu seinem kulturellen Material zählen durfte. Richardson, so stellte Ian Watt fest, "had already shown a remarkable awareness of the symbolism of the unconscious in Pamela"1. Auch in Clarissa entdeckt Watt diese Qualität:

Opinions may well vary over the details of the meaning of the psychopathological aspects of Clarissa, but there can at least be no doubt that this was one of the directions which Richardson's imagination took, and that he there demonstrated a remarkable insight into the by now notorious sophistries of the unconscious and subconscious mind. (Watt 1957: 234 f.)

Das problematische Ringen um die Wahrheit über Clarissas Gefühle prägt nicht nur den Roman, sondern auch die Interpretationen, die dem Roman und der Figur von literaturwissenschaftlicher Seite zuteil wurden. Und der Roman scheint jenes psychopathologische Wissen vorwegzunehmen, das sich in den gut zweihundert Jahren, die zwischen Richardson und Watt liegen, gebildet und formalisiert hat. Er scheint jedenfalls zum Einsatz dieses Wissens einzuladen.

Arbeiten zu Sterne kommen zu ähnlichen Einschätzungen. Robert Alter nennt unter anderen folgende Präsupposition für Tristram Shandy: "people are moved by sexual energies they scarcely recognize; their mental lives are caught up in sexual preoccupations which they are scarcely prepared to admit to themselves"; er rechnet dies unter die "assumptions likely to seem more than reasonable to us today" (Alter 1968: 317). Der Literaturwissenschaftler teilt also mit dem Untersuchungsgegenstand die Sicht des Menschen als eines sexuellen Subjekts. Daß der Mensch von einer ihm selbst kaum erkennbaren sexuellen Motivation geleitet wird, ist die Basis für die Textstrukturen des Tristram Shandy und erscheint auch Alter plausibel. Gerade die Affirmation dieser Plausibilität kann als Index für die historische Einordnung Alters dienen, denn ihr Kontext ist das Sexualitätsdispositiv.2

Studien der achtziger Jahre betonen Sternes "double obsession with sex and with language" (Perry 1988: 27) und streichen seine Vorläuferschaft für die Psychoanalyse Lacanscher Prägung heraus. So konstatiert Ruth Perry: "Tristram Shandy might also be read as if it were invented by some Lacanian disciple to demonstrate the fragility of the self, the obsessional yet precarious preoccupation with the phallus, the problematic nature of sexuality itself [...]" (Perry 1988: 29).3 Auch Dennis W. Allen geht aus von der "continual equation of language and sexuality which obtains throughout the text" (Allen 1985: 652) und setzt vor diesem Hintergrund die obsessive Thematisierung von Impotenz in Tristram Shandy mit einer "rejection of the notion of the referentiality of language" (Allen 1985: 662) gleich. Für einen solchen nicht-referentiellen Text finde sich im Roman nicht phallische, sondern vaginale Metaphorik4, und so kann Allen folgern:

[...] if the phallic view of language insists on control (over language, over others), and the recognition of the impotence of language and of man's impotence with language demonstrates that such control is impossible, the vaginal view of the text and of the writer as woman allow a regained control over language. [...] Unlike the dominance over others stressed by the phallic view of language, the vaginal view of the text emphasizes mutuality: the interplay of the writer's imagination and the linguistic artifact; the reader's interaction with the text; and, implicitly, the intercourse of writer and reader. (Allen 1985: 669 f.)

Die Interpretation versteigt sich mit derartiger Genitallyrik gerade in der Richtung, die der Text seinen Rezipienten schon vorgibt. Allen nimmt die Sexualreferenzen des Texts auf und will sie gar überbieten, läßt sich also gänzlich und unreflektiert auf den Einsatz von geschlechtlichem Wissen und von Mechanismen zur Konstitution von sexueller Bedeutung im Tristram Shandy ein. Dabei müßten diese nicht fortgeführt, sondern als solche benannt und beschrieben werden. Und die Feststellung, daß das historische Material Affinitäten zum Beschreibungsinventar aufweist, wäre nicht freudig zu begrüßen, sondern zum Gegenstand einer genealogischen Betrachtung zu machen. Diese aber würde zweifellos auf das Sexualitätsdispositiv als der historischen Voraussetzung für die Plausibilität solcher Interpretationen führen.

Dies gilt auch, um diesen kleinen Überblick abzurunden, für die Analysen des Charakters einzelner Figuren des Romans. Während in Tristram Shandy selbst, wie gezeigt, der Fokus auf dem Charakter Onkel Tobys ruht, hat die Literaturwissenschaft auch andere Figuren charakteranalytisch behandelt. Man diskutierte den Charakter und die sexuelle Passivität Mrs. Shandys5 oder fragte sich nach der Verbindung zwischen Walter Shandys Wissen und seinem Charakter. Auch dabei bleibt der Bezugsrahmen ein seuxalwissenschaftlicher, wie ein letztes ausführliches Zitat belegt:

Some critics have seen Walter as frustrated by his wife's sexual apathy. My own reading is that the problem is less her 'frigidity' than Walter's diminishing potency. He fails, disastrously, to engage her attention during intercourse; she finds his attentions, which occur only once a month, so boring she starts chattering in medias res [sic]. This would seem to be his fault. Walter distrusts the life of the body and over-values intellect. He is pathologically anxious to damp down sexuality in himself and in those close to him [...] The cooling herbs Walter recommends to Toby are, as we have seen, anti-life. So is Walter's mad rationality. (Myer 1984b: 109)

Myers Analyse der Figurencharakterisierung versteht sich als Erstellung eines sexualpathologischen Profils der Figuren.6 Während andere das Problem in der Sexualität von Mrs. Shandy gesehen haben, sieht Myer es in Walter Shandys eigener Sexualität. In jedem Fall bleibt die Sexualität "[l]a causalité dans le sujet" (Foucault, Volonté de savoir, 94) und ist zugleich "la vérité du sujet dans l'autre qui sait" (Foucault, Volonté de savoir, 94), denn im Wissen der Interpretin wird Walters Sexualität zu seiner Wahrheit, aus der seine lebensfeindliche, antisexuelle Einstellung abgeleitet werden kann. So kann Walters immenser sexologischer Wissensdrang, wo er nicht ignoriert wird, lediglich noch als sein Gegenteil erkannt werden: als pathologisch-lebensfeindliche Rationalität. Walters Wissen, dessen Sammlung und Mehrung zu seinen höchsten Freuden zählt, wird zum "savoir en lui [i.e. le sujet, A.K.] de ce qu'il ne sait pas lui-même" (Foucault, Volonté de savoir, 94), zum Wissen also, das nur noch dazu taugt, die bewußte Oberfläche einer nicht bewußten sexuellen Tiefendetermination zu sein, welche ihrerseits seine Wahrheit ist, zu der nur eine wissende andere Instanz Zugang hat. Status des Wissens und Mechanismen der Interpretation sind mithin dieselben, die nach Foucault charakteristisch für das Sexualitätsdispositiv sind.


  1. Watt (1957), p. 232. Ähnliches stellt auch Dussinger (1970) fest.
  2. Vgl. a. Alter (1968), p. 320: "Sex [...] is the hobby-horse we all ride, willy-nilly, and precisely because we are all in this same saddle, communication can take place through the artful manipulation of our common sexual preoccupation." Doch der Grund dafür, daß wir alle dieses hobby-horse reiten, ist nicht allein in der anthropologischen Konstanz der Sexualität zu suchen (auch nicht in der sexuellen Repression), sondern in der Existenz eines Sexualitätsdispositivs, das uns mit genau nachzuzeichnenden Techniken in den Sattel hilft und dort festhält.
  3. Für eine andere Lacanianische Perspektive vgl. Berthoud (1984).
  4. Vgl. Allen (1985): 660 ff.
  5. Vgl. Faurot (1970), Ehlers (1981).
  6. Jean Hagstrum etwa dehnte solche sexualpathologischen Überlegungen noch auf Sterne selbst aus (vgl. Hagstrum 1980: 259).