Kirchhofer, Strategie und Wahrheit | frameset

Wahrheit und Entlarvung: zum zeitgenössischen Kontext empfindsamer Positionen

Ich möchte zum Schluß meiner Untersuchung wenigstens einen Blick auf andere zeitgenössische Problematisierungen von Leidenschaften und Geschlecht werfen, zumal sich der Einwand erheben könnte, daß zeitgenössische Positionen, die sich als anti-empfindsam charakterisieren lassen, schon genau jene Kritik aufweisen, die hier in spätere historische Kontexte verwiesen wurde. Es geht nun also noch um den Nachweis, daß eine Kritik, die das Streben nach Keuschheit und Tugend als Heuchelei und als Zwang, der der Natur angetan wird, verwirft, nicht etwa eine Sexualunterdrückung im Sinne der Repressionshypothese kritisiert. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche strategische Positionsnahmen, die gleichwohl von einem homologen Wissen ausgehen. Bernard Mandeville, der mit seiner Fable of the Bees unter anderem in die leidenschaftsphilosophische Diskussion des 18. Jahrhunderts gehört, und in dieser noch lange nach seinem Tod als Antagonist empfindsamer Positionen erscheint1, bietet sich als Repräsentant einer solchen Position an.

Dabei wäre auch in andere Richtungen zu verfolgen, daß der Aspekt der Wahrheit nicht nur in der Problematisierung des Geschlechtlichen im empfindsamen Roman dominiert. Eine spezifisch pornographische Schreibweise um die Mitte des 18. Jahrhundert ließe sich wohl ebenfalls mit der Problematisierung des Geschlechtlichen unter dem Aspekt der Wahrheit in Verbindung bringen: Denn statt der Intrige, die schon im Decamerone und bis ins 18. Jahrhundert hinein das erotische Erzählen geprägt zu haben scheint, findet sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch hier das Bekenntnis, das in immer neuen und doch so monotonen Variationen Geschlechtsakte schildert und Körperteile benennt. "Truth! stark naked truth" (Fanny Hill, 39), Nacktheit im Zeichen der Wahrheit, verspricht Fanny Hill der Adressatin ihrer "confession" (Fanny Hill, 129).2 Die Frage nach der Wahrheit fundiert also nicht nur die empfindsame Position, sondern kommt auch in unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Strategien zum Einsatz.

Das Bekenntnis spielt bei Mandeville keine Rolle, und doch bringt auch er eine Wahrheit des Geschlechtlichen ins Spiel. Die Form, in der er dies tut, erscheint auf den ersten Blick als Kritik einer zeitgenössischen Repression der Sexualität. Ich möchte aber nun noch zeigen, daß Mandeville retroaktiv mißverstanden wäre, wollte man ihn so lesen.

Mandeville gelangt im Rahmen der zuerst in der Ausgabe von 1723 seiner Fable of the Bees enthaltenen Bemerkung N.3 ausgehend von Betrachtungen über den Neid zur Eifersucht und von dort zur Geschlechterliebe. Er betont besonders die Verborgenheit des Geschlechtlichen:

This Impulse of Nature in People of strict Morals, and rigid Modesty, often disturbs the Body for a considerable Time before it is understood or known to be what it is, and it is remarkable that the most polish'd and best instructed are generally the most ignorant as to this Affair [...] (Mandeville, Fable, 166)

Auch das Thema der Unterlassung von geschlechtlichen Handlungen gesellt sich zu der Diagnose:

[...] in [Civil Society], where the Rules of Religion, Law, and Decency are to be follow'd, and obey'd before any Dictates of Nature, the Youth of both Sexes are to be arm'd and fortify'd against this Impulse, and from their Infancy artfully frighten'd from the most remote Approaches of it. The Appetite it self, and all the Symptoms of it, tho' they are plainly felt and understood, are to be stifled with Care and Severity, and in Women flatly disown'd; and, if there be Occasion, with Obstinacy deny'd, even when themselves are visibly affected by them. If it throws them into Distempers, they must be cured by Physick, or else patiently bear them in Silence; and it is the Interest of the Society to preserve Decency and Politeness; that Women should linger, waste and die, rather than relieve themselves in an unlawful Manner; and among the fashionable Part of Mankind, the People of Birth and Fortune, it is expected, that Matrimony should never be enter'd upon without a curious Regard to Family, Estate, and Reputation, and in the making of Matches the Call of Nature be the very last Consideration. (Mandeville, Fable, 166 f.)

Man hat geschlechtliche Handlungen zu unterlassen und darf nichts über sie wissen, so daß man seine eigenen geschlechtlichen Regungen kaum erkennt. Ihren Grund haben Opazität und Unterlassung somit nach Mandeville in einem "Interest of the Society". Auch die Argumentationsfigur des vom Natürlichen abweichenden Tatsächlichen findet sich schon: Im Dienste dieses gesellschaftlichen Interesses erzielt man geradezu durch Manipulation, daß das tatsächliche Verhalten der Menschen von ihren natürlichen Veranlagungen abweicht:

The Power and Sagacity as well as Labour and Care of the Politician in civilising the Society, has been no where more conspicuous, than in the Happy Contrivance of playing our Passions against one another. By flattering our Pride and still encreasing the good Opinion we have of our selves on the one hand; and inspiring us on the other with a superlative Dread and mortal Aversion against Shame, the Artful Moralists have taught us chearfully to encounter ourselves, and if not subdue, at least so to conceal and disguise our darling Passion Lust, that we scarce know it when we meet with it in our own Breasts; Oh! the mighty Prize we have in view for all our Self-denial! can any Man be so serious as to abstain from Laughter, when he considers that for so much deceit and insincerity practis'd upon our selves as well as others, we have no other recompence than the vain satisfaction of making our Species appear more exalted and remote from that of other Animals, than it really is; and we in our Consciences know it to be? (Mandeville, Fable, 167 f.)

Zweifellos sind also alle Elemente versammelt, die es erlauben sollten, Mandeville zu einem frühen Diagnostiker der Repressionshypothese zu erklären: die aufeinander bezogenen Themen der Opazität und der Unterlassung sowie die Abweichung des tatsächlichen Verhaltens von einer natürlichen geschlechtlichen Veranlagung.

Und doch ist es auch hier nicht gerechtfertigt, nur diese Elemente aus den Passagen herauszugreifen, um sie im Sinne der Repressionshypothese zu kombinieren. Zunächst darf man nicht überlesen, welche sozialen Schichten besonders von der Opazität des Geschlechtlichen geplagt werden: Es sind "the most polished and best instructed", "the fahionable Part of Mankind", "Persons of Birth and Fortune", denen Mandeville die schärfste Unkenntnis attestiert. Von den braven puritanischen Kauf- und Handwerksleuten, von Englands neuer Mittelschicht, der "middle station of life" des Robinson Crusoe, ist keine Rede. Für Mandeville ist das Mißverständnis der geschlechtlichen Regung besonders groß in den höchsten und feinsten Kreisen der Gesellschaft und nicht etwa in den Schichten, die nach dem traditionellen Bild die sozialen Träger der Empfindsamkeit sind.4

Weiterhin ist die Opposition zwischen Freiheit und Unterdrückung des Geschlechtlichen nicht die fundamentale, die Mandeville in den zitierten Passagen aufbaut: Es stehen sich vielmehr "Impluse", "Appetite", "Call of Nature" auf der einen Seite und "a curious Regard to Family, Estate, and Reputation" auf der anderen gegenüber. Das Geschlechtliche als Teil der Person, den es in seinen Wirkungen zu erkennen gilt ("Symptoms", "Distempers"), steht gegen das Gesetz, das die "Dictates of Nature" nur im Rahmen von "Religion, Law and Decency" zuläßt. Was hier miteinander konfrontiert wird, sind zwei Problematisierungsformen, die man mit Foucault auf die Begriffe Sexualitätsdispositiv und Allianzdispositiv5 bringen kann. Die Wahrheit des Geschlechtlichen ist hier der Hebel der Kritik an der gänzlich strategischen Orientierung derer, die es ausschließlich auf die Wahrung und Stärkung der sozialen Position anlegen.

So steht die erkannte Wahrheit des Geschlechtlichen bei Mandeville auch nicht im Dienst von dessen Befreiung. Mandeville legt es auf die satirische Entlarvung jener höchsten Kreise an. Es ist kein Zufall, daß er sich in dieser Form des Einsatzes von Wissen mit der Erzählinstanz von Manleys New Atalantis trifft. Beide streben nach Wahrheit in dem Maße, wie diese Wahrheitssuche mit dem Aufdecken und Bloßstellen von geheimen Motivationen der Menschen zusammenfällt.

Diese geheimen Motivationen haben sich aber gegenüber der Liebesintrige geändert. Ging es für die Liebenden dort darum, die Liebesgegner möglichst an taktischem und strategischem Geschick zu übertreffen, um zur Gratifikation zu gelangen und vor allem ihren eigenen Ruhm zu mehren, so ist bei Mandeville die Eitelkeit gerade ein Motiv für den Selbstbetrug in Liebesdingen: Die natürliche Regung selbst wird solange in Abrede gestellt und unterdrückt, bis man seine "darling Passion Lust" selbst nicht mehr erkennt. In diesem Selbstbetrug unterscheiden sich nun auch nicht mehr die Liebenden und die Liebesgegner; er ist vielmehr eine allgemeine Täuschung, deren Intensität mit dem sozialen Rang steigt. Die beteiligten Personen sind also nicht mehr die Subjekte taktischer Handlungen und strategischer Entscheidungen, sondern sie gleichen den Subjekten des Frömmigkeitshandbuchs darin, daß das Geschlechtliche für sie Teil ihrer Persönlichkeit und Gegenstand einer schwierigen Selbsterforschung ist. Mandevilles Appell an das innere Bewußtsein von der Geschlechtslust richtet sich an Menschen, die mit diesem Bewußtsein und der Suche nach den Spuren dieser Lust in ihrem Selbst aufgewachsen sind. Die Perfidie des Fleischs ist bei Mandeville zur Perfidie des Politikers, das Fleisch selbst aber zur Natur und die Distanz zu dieser Natur zum Gradmesser der Zivilisation geworden. Die 'natürliche Sexualität' stammt ebenso vom Fleisch ab, wie Mandevilles psychologische Kategorien ("Pride", "Lust") schon die längste Zeit nicht nur als Laster, sondern sogar als Todsünden im Umlauf waren.

Auch wenn der Weg zur Fable of the Bees sicherlich über die französische Moralistik eher als über das Frömmigkeitshandbuch führt, auch wenn Mandeville die Wahrheit des Geschlechtlichen nicht über Bekenntnisse, sondern über seine scharfsinnige Analyse ermittelt — Mandeville liefert eine strategische Analyse sozialen Verhaltens, die ihre Annahmen über die natürliche Veranlagung des Menschen mit den Diskursen, die das Frömmigkeitshandbuch aufgenommen haben, teilt, weil es sich ebenfalls aus einer christlichen Anthropologie speist. Das Wissen, das Mandeville einsetzt, stimmt in seinen Grundannahmen weitgehend mit dem Wissen bei Richardson überein.

Mandeville und Richardson teilen das Wissen, daß gerade "People of strict Morals, and rigid Modesty" (Mandeville, Fable, 166) besondere Schwierigkeiten bei der Erkenntnis der eigenen geschlechtlichen Regungen haben und daß bei der Partnerwahl Konflikte zwischen den geschlechtlich motivierten Wünschen und den gesellschaftlichen Interessen der beteiligten Personen und Familien auftreten können; ein Wissen also, dessen Form sich als charakteristisch für die Problematisierung des Geschlechtlichen unter dem Aspekt der Wahrheit erwiesen hat. Sie stehen einander nicht gegenüber, so als sei Richardson der Advokat der sexuellen Repression während Mandeville die Verdrängung aufdecke und anprangere. Mandeville setzt dieses Wissen zur satirischen Entlarvung der gesellschaftlichen Heuchelei ein, während Richardson sich der subjektkonstitutiven Rolle des im Subjekt verborgenen Geschlechtlichen bedient und sie zur Grundlage der Charakterisierung seiner Protagonistin macht. Anstatt die Elemente der Opazität und Unterlassung herauszugreifen und sie als Indizien der Sexualunterdrückung zu werten, sind solche Vorgänge als Zusammenspiel von Wissensformen, Machtbeziehungen und Subjektivierungsmustern zu beschreiben.


  1. Von Francis Hutcheson bis Adam Smith reicht die Liste der Philosophen, die gegen Mandevilles Formel "Private Vices, Public Benefits" ins Feld zogen.
  2. In Frankreich ließe sich eine solche Entwicklung etwa an Diderots Bijoux indiscrets, jener Fabel, die Foucault als Geschichte der Sexualität umschreiben möchte (vgl. Foucault, Volonté de savoir, 101), festmachen.
  3. Mandeville, Fable, 158-169.
  4. Zur generellen Problematik der Zuweisung der Empfindsamkeit an das Bürgertum vgl. Werner Wolf (1984).
  5. Vgl. Foucault, Volonté de savoir, 140.