Pierre Marteau’s Publishing House
Martin Mulsow
Ein tugendhafter Vanini, ein trinitarischer Spinoza und ein lutherischer Bruno:
‚Deus sive natura‘
in der Theorienmotorik der deutschen Frühaufklärung
Der folgende Text gibt einen Vortrag wieder, den ich am 17.7. 1996 auf einem von Jan Assmann veranstalteten Kolloquium zum Thema “Deus sive natura” in Heidelberg gehalten habe. Ich danke Jan Assmann für Kritik und Anregungen. Für eine eingehendere Darstellung der Theorienmotoriken der Frühaufklärung verweise ich auf mein Buch Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Hamburg: Meiner, 2002. In dieses Buch sind einige Passagen aus diesem Vortrag eingegangen. Zu Martin Muslow |
‚Deus sive natura‘, heißt es bei Spinoza, ‚ipsa natura, quae Deus est‘ lautet die Formulierung bei Vanini, vergleichbare Worte finden sich bei Bruno. Gemeint ist freilich mit diesen Formulierungen jeweils unterschiedliches. Aber die Worte lauten ähnlich, und sie lassen die Idee aufkommen, man könne mit dem Übereinanderlegen dieser Formeln auch die Weltanschauungen zusammenmontieren, die hinter ihnen stehen. Das frühe 18. Jahrhundert ist eine Zeit solcher bewußter Homologisierungen gewesen,[1] des geschickten eklektischen Ineinanderfügens von Argumenten, die sich gegen die gleiche verabscheute Orthodoxie richten, oder zumindest gegen das gleiche tradtionelle Bild von Gott, Christus, der Schöpfung oder der Sünde. So enthält ein Meisterstück solcher Techniken, der Traité des trois imposteurs, auch in seiner Variante als Esprit de Spinosa, die Überblendung erst von Hobbes und Spinoza, und dann von Spinoza und Vanini. In der Passage, in der die Bibel als von Rabbinern zusammengeschustertes Machwerk denunziert wird, heißt es: „Die Juden und Christen ziehen es vor, aus diesem unverständlichen Buch Rat zu holen, statt das Gesetz der Natur zu befolgen, das Gott, das heißt die Natur, insofern sie das Prinzip aller Dinge ist, ins Herz der Menschen eingeschrieben hat. Alle anderen Gesetze sind nur menschliche Erfindungen (...).”[2] Das ist ein einmontiertes Vanini-Zitat, das aber bewußt so gewendet ist, daß es sich wie Spinozas ‚Deus sive natura‘ anhört.[3] Zuvor hatte der Traktat Spinoza bereits materialistisch interpretiert, so daß es dann möglich war, Vaninis Naturalismus, der zudem eine harsche Kritik an der Figur des Christus einschloß, auf diese Folie zu legen.
Und auch bei einem Denker wie John Toland ist es oft schwer auseinanderzubekommen, wo die Sympathie für Spinoza aufhört und die Rezeption von Bruno anfängt. Toland war, wie man weiß, einer der entscheidenden Wiederentdecker Brunos, und vor allem ein Propagator Brunoscher Ideen in einem politischen und religionskritischen Kontext. Das Wort ‚pantheistisch‘, das wir heute benutzen, um das Problem zu bezeichnen, um das es in der Formel ‚Deus sive natura‘ doch offensichtlich geht, dieses Wort ist ja nicht zufällig von ihm in seinem Pantheisticon von 1720 geschaffen worden.[4]
Ich möchte im folgenden in vier Anläufen den Versuch unternehmen, einen Faden durch das verwirrende Labyrinth dieser Homologisierungen zu spinnen, vor allem der in Deutschland akuten. Erstens werde ich einige Grundthesen und Grundsensibilitäten herauspräparieren, die den Debatten in all ihren Schattierungen als gemeinsame zugrundegelegen haben, ja noch mehr: die Überblendungen erst möglich gemacht haben. Zweitens will ich den größeren Kontext skizzieren, in dem diese Debatten gesehen werden sollten, nämlich den Kontext der Identifizierung des Spinozismus mit dem Stoizismus oder dem Platonismus, wie man ihn um 1700 verstanden hat. Dieser Teil fügt der im ersten Teil aufgedeckten ‚Grammatik‘ der philosophischen Wahrnehmung die weitere Perspektive von Gewinn- und Verlusterwartungen, Risiko- und Ressourceneinschätzung durch Intellektuelle der Zeit hinzu. Drittens möchte ich mithilfe meiner Lagebeschreibung etwas mehr Licht auf die ‚volte-face‘ Wachters – wie sie Gerschom Scholem genannt hat – werfen: die hundertachtzig-Grad-Drehung nämlich von der Vergötterten Welt zum Eludicarius cabalisticus. In diesem Teil kommt zu den bisherigen Koordinaten, Spinoza, Vanini, Bruno, Stoa und Platon auch die Kabbala ins Spiel. Schließlich werde ich in einem vierten Teil den Versuch beschreiben, mit Kategorien der politischen Theologie und mit einem sehr konkreten Skeptizismus aus dem Labyrinth der so verwirrend komplexen Einschätzungen und Kehrtwendungen auszubrechen, um auf diese Weise der Formel ‚Deus sive natura‘ eine entschärfende Erklärung zu geben.
Um den Ariadnefaden auszurollen, stelle ich mir einen idealen Leser der ersten Jahre des 18. Jahrhunderts vor; zwar nicht Joyce’s Leser mit idealer Schlaflosigkeit, aber doch einen Leser, der erstens idealtypisch für einen jungen Intellektuellen in der deutschen Frühaufklärung und zweitens insofern ideal ist, als er mit allen Anregungen und Strömungen konfrontiert wird, um die es mir hier gehen soll. Auch ein solcher Leser hat sich damals orientieren müssen, wenn er die Formel ‚Deus sive natura‘ gehört hat. Es war ja keineswegs a priori ausgemacht, was man unter einer solchen Gleichsetzung verstehen sollte; weder, wie man die Gleichsetzung selbst auffassen sollte, noch was ihre beiden Relata genau aussagten. Die Formel konnte auf ein Übergewicht der ‚Natur‘ hin gelesen werden und als Chriffre des plattesten Materialismus dienen, oder auch die Natur umgekehrt ganz in Gott aufgehen lassen, im Sinne einer spiritualistischen Auffassung noch der Ausdehnung und des Körperlichen. Das Umkippen der Spinoza-Rezeption vom Materialismus des frühen in den Idealismus des späten 18. Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel dafür. Und auch das ‚sive‘ ließ ja noch genügend Spielraum offen für verwirrende Interpretationen zwischen reiner Identität, Gleichursprünglichkeit, panentheistischem Enthaltensein und modaler Verwandschaft des einen mit dem anderen.
Ich behaupte, daß ein junger Leser im damaligen Deutschland über seine Lektüre durch einige Thesen geprägt gewesen ist, die gleichsam die ‚Grammatik‘ seiner philosophischen Wahrnehmung gebildet haben. Zunächst einmal ist da die Bayle-Lektüre hoch zu veranschlagen. Es gab die These Pierre Bayles, ein tugendhafter Atheist sei kein Widerspruch in sich.[5] Die These stand konträr zur traditionellen Meinung, der widernatürliche Atheismus könne nur in moralisch widerwärtigen Individuen vorkommen. Statt dessen trennt Bayle die Theorie des Atheisten von seinem tatsächlichen Verhalten. Es ist die aus dieser These resultierende Wahrnehmung, über die Spinoza und Vanini, die beide ein Leben ohne moralische Skandale geführt haben, über einen Leisten geschlagen werden konnten.
Dann gab es eine Emphase der ‚Rettungen‘ und ‚Apologien‘, die bei den Protestanten aus dem konfessionalistischen Erbe des Abfassens von Anti-Kirchengeschichten im Sinne von Gegenentwürfen zur offiziellen ekklesiastischen Geschichte aus römisch-katholischer Perspektive herausgewachsen war. Schon Matthias Flacius hatte nach ‚lutheranischen Märtyrern‘ geforscht, und um 1700 war vor allem Gottfried Arnold mit seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie darin prägend gewesen, Häretiker zu rehabilitieren, wenn sie sich nur als echte Sucher nach der inneren Wahrheit erwiesen hatten. Christian Thomasius hat bekanntlich oft in seinen Vorlesungen betont, Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie sei ihm nach der Bibel das liebste Buch, und Peter Friedrich Arpe hat Arnold liebevoll Patronus accusatorum generalis genannt, als er dessen Kapitel über Vanini ins Lateinische übersetzt hat.[6]
Die Bayle-These vom tugendhaften Atheisten konnte wunderbar mit dieser Rettungs-Emphase zusammengeführt werden, ebenfalls Gabriel Naudés Rettungen von Philosophen und Mathematikern gegen die denunzierenden Magie- und Religionsspötter-Vorwürfe, die dieser schon 1625 verfaßt hatte.[7] Aus dem vereinten Impetus von Arnold, Naudé und Bayle entstanden in Deutschland nach 1700 eine Reihe von Rettungen von Gestalten wie Vanini, Bruno, Hobbes, Ficino oder Campanella. Man mußte vor allem eine hermeneutische Gemeinsamkeit finden, dann konnte man Denker kommensurabel machen und Traditionen retten. Auf diese Weise hat Heumann Giordano Bruno zum lutherischen Märtyrer gemacht, denn Bruno war gegen den Papst gewesen (während sein Opponent La Croze auf der auch von Bayle gesehenen Parallele zwischen Bruno und Spinoza als Atheisten beharrte)[8]; so hat Arpe Vanini zum unschuldigen und nur durch Mißgunst zum Opfer gewordenen Philosophen gemacht[9]. Hatte man einen solchen Punkt, konnte man – wenn man den Mut dazu hatte – Parallelen herstellen: Vanini war ein tugendhafter Atheist wie Spinoza, Bruno vertat eine kritische politische Philosophie wie Thomasius und ähnliches mehr.
Das galt im übrigen auch für die Rehabilitierung der Kabbala, und zwar auch jenseits von Wachter, zu dem ich noch kommen werde. Machen wir eine Probe aufs Exempel. Wenn Johann Franz Budde die christlichen Kabbalisten verteidigt, dann tut er es zwar im Rahmen seiner Artikel in den Observationes selectae zunächst im Schutz der Anonymität, aber nicht ohne sich der Möglichkeiten der Rettungsemphase zu bedienen. Budde war damals offenbar von Bayles These, theoretisierende Atheisten könnten moralisch durchaus einwandfreie Menschen sein, beeindruckt – so sehr er später in De atheismo et superstitione Bayle zu relativieren versucht hat. Zumindest benutzt er 1700 genau diese Distinktion zwischen Moralität und Theorie, denn in seiner Beschäftigung mit den christlichen Kabbalisten der Renaissance hat sie ihm geholfen und erst den Weg für ihre Würdigung freigemacht. Er betont in seiner Schrift über Guillaume Postel zwar, er wolle keinesfalls eine Apologie Postels schreiben[10]. Aber er weist darauf hin, bei all den Anschuldigungen, die er zitiere und nach denen Postel ein Atheist oder ein Enthusiast gewesen sei, müsse man doch einräumen, daß sein Lebenswandel tadellos gewesen wäre[11].
Nun kann man fragen: war dann nicht über diese Rettungsemphase die Bahn frei für eine unvoreingenommene Rezeption Spinozas, gerade innerhalb der Gruppe der ebenfalls ‚tugendhaften‘ und mehr oder weniger antipäpstlichen und insofern ‚lutheranischen‘ Naturalisten-Märtyrer? Nein: der Weg war einerseits geöffnet, andererseits aber durch meist noch stärkere Blockaden verschlossen. Was diese Blockaden waren, ist nicht einfach zu erkären. Es ist nicht nur das Problem – das Winfried Schröder überzeugend herausgestellt hat –, daß die antinormative Philosophie Spinozas nicht mit den normativen naturrechtlichen Grundlagen der Frühaufklärer kompatibel schien. Es gab auch eine tief einsitzende Sensibilität für die Probleme eines Pantheismus, die schon Pierre Bayle davon abgehalten hatte, mit Spinoza zu sympathisieren.
In Deutschland lag die Ursache für diese Sensibilität wohl in den Abgrenzungen der orthodoxen Lutheraner gegen ‚Schwärmer‘ und Jakob Böhme-Anhänger. Jakob Thomasius, der Vater von Christian, hatte Enthusiasmus und Pantheismus als eng verwandte Korruptionsformen verstanden und versucht, ihre Wurzeln in der Vergangenheit freizulegen. Alles, was die göttliche Schöpfung aus dem Nichts in Frage stellte, schien ihm mit dieser Korruption zu tun zu haben und das christliche Weltbild von Innen her zu bedrohen.[12] Bayle ist, in diesem Punkt von Thomasius beeinflußt, auf gleicher Linie weitergeschritten. Er hat den Pantheismus Spinozas in den Horizont dieser Analyse gestellt und zwar nicht wie Thomasius einen orthodoxen Aristotelismus dagegen gesetzt, aber dennoch nicht minder vor den Folgen eines Pantheismus gewarnt.
Es ist wohl angebracht, diesen Punkt der Sensibilität gegenüber dem Verhältnis von Gott und Materie etwas zu vertiefen. Es gibt zu jeder Zeit eine gewisse Mythomotorik von ‚heißer Erinnerung‘ in dem Sinne, daß ein Vergangenheitsbezug die Elemente des Bildes, das jemand von sich selbst hat, bestimmt und von dort aus Licht auf Gegenwart und Zukunft fallen läßt, nämlich auf seine Einschätzungen und Erwartungen.[13] Eine spezielle und sehr akademische Weise dieser Mythomotorik kann man die Theorienmotorik in der Philosophiegeschichte nennen. Das meint, daß die Rezeption von bestimmten Traditionen von ‚heißer‘ Qualität ist, nämlich unmittelbar auf die brisanten Fragen der philosophischen Orientierung Einfluß hat. Das Bestreben der Rezipienten geht dann darauf, die Motorik zu beherrschen, also die bevorzugten Theorien zu legitimieren, zu positionieren, manchmal auch zu verschleiern und verdeckt in die Debatte einzuschleusen und auf eine spezielle Wirkung zu berechnen.
Für die Epoche, die ich hier in den Blick nehme, waren diese Prozesse von entscheidender Bedeutung. Denn es gab – wenn ich hier noch einige weitere Termini aus der Theorie des kulturellen Gedächtnisses variieren darf – um 1700 eine zerdehnte Situation zwischen der hellenistischen Spätantike bzw. dem frühen Christentum einerseits und der Gegenwart der Frühaufklärung andererseits. In dieser Situation, die sich in einer Fülle von theologie- und philosophiehistorischen Studien ausdrückt, die gleichwohl in ihrer Thematik auf die Gegenwart schielen (Titel wie Buddes De Spinozismo ante Spinozam sind da sprechend[14]), konnte die sei es kontrapräsentische, sei es fundierende Erinnerung an Theorien der Antike unterschiedlich eingesetzt werden, mit radikalen oder konservativen Auswirkungen. Da das frühe 18. Jahrhundert als eine Phase massiver Historisierungen in der Philosophiegeschichtsschreibung auch eine Epoche akuter Kanonbildung gewesen ist, spielen diese Definitions- und Interpretationskonflikte in ihr eine besondere und folgenreiche Rolle. Bruckers große Historia critica philosophiae, von 1742 an erschienen, ist dann, zumal im Blick auf ihre Fernwirkung über Diderots Encyclopédie, ein gewisser erster Abschluß dieser philosophischen Kanonbildung der Moderne gewesen.
Im Falle Spinozas stand wie gesagt der Impuls zur Rettung gegen den Impuls zur Abwehr des Pantheismus. Und diese Abwehr wollte man historisch organisieren. Um innerhalb der zerdehnten Situation den richtigen Pfad zu finden, hat man zunächst einen selektiven Lektüreweg gesucht. So hat schon Ende des 16. Jahrhunderts Giovann Battista Crispo, ein Freund Possevinos, des Autors der Bibliotheca selecta, die Parole ausgegeben: De ethnicis caute legendis, was sich übersetzen läßt als: Anweisung, mit welchen Vorsichten ein Christ sich die heidnische Philosophiegeschichte anzueignen hat.[15] Für das protestantische Deutschland des Barock hat dieses Programm vor allem der genannte Jakob Thomasius verfolgt, und er hat damit für zwei oder drei Generationen den Zugang zur Erforschung der Geschichte der Philosophie geprägt. Man hatte bestimmte Mittel, wie man den Pfad einer risikolosen Antikeaneignung aufspüren konnte. Risikolose Aneignung heißt hier: ohne Gefahr für eine Unterminierung des gegenwärtigen – in diesem Fall protestantischen – Christentums. Zu den Mitteln gehörte etwa das Modell des Mittelwegs, auch es zumeist spezifisch protestantisch angelegt. Da wurden Gegensätze aufgemacht, die man mit der rechten Ausmittelung zu vermeiden hatte, Gegensätze wie: ‚Zu viel glauben – zu wenig glauben: Aberglaube oder Atheismus (in Stichworten: man wollte weder Heidnisch oder katholisch noch materialistisch und spinozistisch sein). Ein verwandter Gegendsatz war: ‚Zu sehr das Innere vergöttlichen- zu sehr das Äußere vergöttlichen: Enthusiasmus oder Aberglaube (man wollte weder Täufer oder Böhmianer noch Heidnisch oder katholisch sein).[16] Das Vergöttlichen der Welt – das läßt sich schon hier sagen –, welches Wachter in pseudo-orthodoxer Manier im Spinozismus im Jüdenthumb der Kabbala und Spinoza vorwirft, zieht, wie man sieht, beide Register zugleich. Ein gleichsam abergläubischer Atheismus wird da von ihm verworfen, und der Untertitel des Buches, Die vergötterte Welt, spielt wohl nicht von ungefähr auf den Titel des wenige Jahre zuvor erschienenen Anti-Aberglaubens-Buches von Balthasar Bekker an, Die verzauberte Welt [17].
Aber bevor ich zu Wachter komme, muß ich nennen, was seit Jakob Thomasius das entscheidende Kriterium zur Bewertung gefährlicher heidnischer Philosophien gewesen ist. Es war das schöpfungstheologisch bestimmte Verhältnis von Gott und Materie. Gefährlicher Pantheismus und somit Atheismus lag dann vor, wenn nicht die Schöpfung der Welt aus dem Nichts, wie in der Bibel, angenommen war, sondern die Materie in irgendeiner Weise unerschaffen bereits vorhanden gewesen sein sollte. In dieser Perspektive erschließen sich die großen Diskussionsthemen um 1700. Wenn Gott und die Materie beide zu Prinzipien gemacht werden, wie im Manichäismus, den Pierre Bayle so unerwartet aktualisiert hatte, dann war die Materie als Ursprung des Bösen auf unwiderlegbare Weise autonom, und das Christentum mußte darüberhinaus in gewisser Weise als Folgeerscheinung dieser orientalischen Lehre wirken, denn es konnte selbst nicht Gott als Ursprung des Übels erklären wollen. Um diese ins Revolutionäre driftende Theorienmotorik zu kompensieren, hat beispielsweise Johann Christoph Wolf 1707 eine im Zoroastrismus gründende asiatische Abweichung mosaischen Wissens konstruiert, die für die manichäistischen Korruptionsformen des Christentums bis in die Moderne verantwortlich zu machen sei.[18] Wolf war es dabei ein Anliegen, die platonische Tradition von jeder Belastung freizuhalten. Diese Wendung war weniger gegen Bayle, als gegen Jakob Thomasius gerichtet, der zuvor gerade in der neuplatonischen Tradition die Wurzel des Übels des zweiten großen Problemkomplexes gesehen hatte, nämlich des Enthusiasmus. Schwärmer und Böhemaner waren für Thomasius Atheisten, denn sie hatten aus platonischen Rezeptionsfehlern heraus Gott und Materie gleichewig gesetzt, oder die letztere aus dem ersteren hervorquellen lassen.[19] Scharnierstück ist in Thomasius Fahndungsliste, neben der Stoa, David von Dinant, dessen mittelalterliches Theorem ‚Deus esse materiam primam‘ später oft, etwa von Bayle, mit dem Pantheismus Brunos und Spinozas in Verbindung gebracht worden ist.[20] Wolf, und teilweise auch Budde, wollten aber zumindest einen originären Platonismus aus dieser Schuldrückführung retten. Denn das platonische Ternardenken hatte es spätestens seit Cudworth möglich gemacht, eine Ressource des Denkens von Trinität und rationalem Christentum zu sein, die sich gegen den dritten Problemkomplex einsetzen ließ, gegen den Materialismus eines Hobbes, und auch gegen den Antitrinitarismus der Sozinianer. Bei Cudworth war die Einheit aus mosaischem, kabbalistischen und platonischem Denken verwirklicht,[21] wie sie dann auch Budde dazu geführt hat, die Kabbala im Sinne mündlicher alttestamentarischer Weisheit als legitime Ressource der Moderne zu verteidigen.[22] Doch, zunächt noch ganz abgesehen von der Kabbala, war die Inanspruchnahme des Platonismus für die Theologie äußerst umstritten. Im Sinne der zerdehnten Situation war man sich historisch der Überformung des frühen Christentums durch den hellenistischen Platonismus bewußt, und das war für eingefleischte Lutheraner wie natürlich erst recht für Sozinianer eine Korruption des Glaubens durch die philosophische Spekulation. Deshalb war es mit großen Folgen verbunden, wenn der Platonismus mit dem vierten großen Problemkomplex verbunden wurde, dem des Spinozismus. Ein – allerdings neuplatonsich interpretierter – Platon hat, so war der Vorwurf, immer noch eine präexistente Materie angenommen, die vom Demiurgen lediglich zu formen war. Deshalb steckte, ganz im Sinne der Anti-Schwärmer-Genealogie als Diagnose eines paganen Rezidivs durch Jakob Thomasius, nun aber in eine Anti-Spinoza-Genealogie umgewendet, in Platon bereits keimhaft der Atheismus Spinozas. Nachdem Budde in De Spinozismo ante Spinozam 1701 die Quelle des Übels noch auf die materialistischen Vorsokratiker und die Stoa beschränkt hatte, hat seit 1706 Gundling auf diese Weise den Platonismus in Platon selbst als atheistisch attackiert, um die engen Verbindungen zwischen Theologie und Philosophie skeptisch zu kappen.[23]
Man sieht, die Theorienmotorik ist um 1700 äußerst komplex. Man versucht, revolutionäre Auswirkungen abzubiegen, konservative dagegen zu erhalten; man versucht Ressourcen philosophiehistorisch abzusichern. Gott und Materie, ‚Deus‘ und ‚natura‘ sind in ihrem delikaten Verhältnis genau zu bestimmen, wenn man eine Chance haben will, von der internen Öffentlichkeit dieser Debatte gehört und anerkannt zu werden. Ich habe dabei die eng verwandte Diskussion um die Gnosis noch nicht einmal erwähnt, für die ebenfalls ihre interne Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Materie erörtert wurde. Es stand zur Alternative, ob man mit Budde die Gnosis als pervertierte frühe Kabbala oder sie mit Wolf als Pervertierung des Zoroastrismus ansehen sollte.[24] Die Rede vom ‚gnostischen Rezidiv‘, das Voegelin in der Neuzeit hat wirken sehen, ist hier gar nicht weit entfernt.[25] Die Frühaufklärung steht mitten in genau dieser Debatte, und sie hat in ähnlicher Weise die religionsfanatischen Exzesse des 17. Jahrhunderts vor Augen, wie dies auch Voegelin, angereichert freilich noch mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, gehabt hat. Voegelin ist mit seinem Verdacht, die Neuzeit habe die Gnosis noch nicht überwunden, durchaus im Erbe von Wolfs Diagnose über die Permanenz des Zoroastrischen Denkens.
Von der Debatte über die Art der Korruption, die man in der Gnosis sehen sollte, läßt sich nun aber eine direkte Brücke zur Wachterschen Kontroverse schlagen.[26] Wollen wir unseren idealen Leser auf Wachters Bücher stoßen lassen, so nehmen wir an, daß er sie in seinem Regal zwischen den genannten Werken von Budde, Gundling, Wolf, Cudworth, More oder Thomasius plaziert hat. Er wird dann in Wachters Elucidarius cabalisticus die Stellungnahmen zu Budde und die Positionierung innerhalb der zeitgenössischen ‚Grammatik‘ der Debatten sehr genau wahrnehmen. So kann er lesen, daß sich Wachter auf Buddes These aus der Dissertatio de haeresi Valentiniana beruft, die gnostische Häresie sei aus einer Pervertierung der originalen jüdischen Philosophie entstanden, woraus doch zu schließen sei, daß es schon vorher Kabbala gegeben habe. Es ist jene These, die Wolf etwas später mit seiner alternativen These der Gnosis als Pervertierung aus dem Zoroastrismus in eine andere Richtung zu biegen versucht hat, eine Richtung, die sich nicht dem Komplex Kabbala-Platonismus-Spinozismus aussetzen würde. Wachter jedenfalls moniert, daß Budde das Faktum einer vorgnostischen Existenz der Kabbala in der der Dissertatio vorgeschalteten Introductio ad historiam philosophiae Ebraeorum nicht so offen zugegeben habe.[27] Außerdem kehrt er geschickt den Vorwurf Buddes an die Kabbala um, dort wo sie wirkliche Philosophie werde, werde sie schlecht, denn er kritisiert an Budde, daß dessen eigene Darstellung der ‚Philosophie der Hebräer‘ so bruchstückhaft sei, daß sie den von Budde verächtlich gemachten ‚somnia‘ der europäischen Juden an Absurdität nicht nachstehe. Wachter stellt damit Buddes Spagat bloß, der darin bestand, die Kabbala wegen ihrer angenommenen Überlieferung echter mosaischer Weisheit aufzuwerten, aber zugleich auch ihren Wert gegenüber der traditionellen Philosophie einzugrenzen. Man konnte diesen Spagat aus anderer Perspektive auch so sehen, daß Budde einerseits an der Vorstellung einer ursprünglichen Weisheit Adams und der Patriarchen festhalten wollte, andererseits aber auf die Ergebnisse der historischen Kritik Rücksicht zu nehmen hatte, die die Barockvisionen von den Pariarchen als polymathischen Philosophen und Wissenschaftlern schon beträchtlich destruiert hatte.[28]
Doch rekapitulieren wir, warum Budde diesen Spagat versucht hat. Ein wichtiger und entscheidender Anstoß zur Neubesinnung auf den Wert der jüdischen philosophischen Tradition war 1677 bis 1684 gegeben worden, als Christian Knorr von Rosenroth seine Kabbala denudata veröffentlichte, in der auch die lateinische Epitome von Herreras Pforte des Himmels enthalten war.[29] Der Zirkel von Knorr, Henry More und Franz Mercurius van Helmont hat mit seinen Aktivitäten in den folgenden Jahren die Debatte darüber bestimmt, wie man kabbalistisch im Kontext der nichtjüdischen Moderne denken konnte. Vor allem hatten sie die Kabbala für die christliche Apologetik attraktiv gemacht, so daß auch manchen Protestanten in Deutschland eine wenn auch eine behutsamere Applikation der Kabbala für ihre Theologie ratsam schien. Es war die Phase vor einem zweiten größeren Schub des Bekanntwerdens geheimer jüdischer Überlieferungen, der etwa um 1715 stattfand, und einen ganz anderen Aspekt jüdischen Denkens in den Vordergrund schob. Ich spreche von der Zeit der zweiten Auflage von Jacques Basnages Histoire des Juifs, als die antichristlichen Polemiken eines Saul Levi Morteira, Orobio de Castro oder Isaak Troki bekannt wurden. Diese Phase leitet in gewissem Sinne die zunehmend religionskritische Aufklärung ein.[30] Die Phase zwischen 1684 und 1715 hat dagegen noch etwas Spätbarockes mit ihren Spekulationen wechselseitig neuplatonischer und kabbalistischer Metaphysik. Um so kontrastreicher ist es gewesen, wenn man wie Wachter mitten in diesem Komplex Spinoza hat auftauchen lassen. Die quasipietistische Inanspruchnahme der Kabbala durch Budde für eine einfache, aber natürliche und im Fundierungsmythos des alten Testaments legitimierte Religion war da noch konsensfähiger, und es scheint mir nicht unverständlich, daß Wachter sich in seinem zweiten Kabbala-Buch an diese Konsensfähigkeit hat anhängen wollen. Will man die Reihe von ‚voltes-faces‘ in dieser Entwicklung von Moses Germanus über ‚Wachter I‘ und Budde zu ‚Wachter II‘ einsichtig machen, tut man jedenfalls gut daran, sich der im vorigen Abschnitt skizzierten Theorienmotorik zu erinnern.
Johann Peter Spaeth war ja mit seiner Konversion zum Judentum eine Provokation für christliche Intellektuelle. Allerdings hat Wachter diesen Moses Germanus ganz so dargestellt wie er ihn haben wollte, nämlich als einen von den More-Helmontschen Adaptionen der Kabbala geprägten Denker, nicht aber wie es dessen Ansichten wirklich entsprochen hätte. Er tat es, um seinen Quark zu Markt zu bringen, wie es Spaeth selbst ausgedrückt hat.[31] Was aber ist dagegen Wachters ‚Erinnerung‘ an die Kabbala? Es scheint sich bei ihm, theoretisch gesprochen, um eine revolutionäre Auswirkung von Theorienmotorik zu handeln, die zuerst kontrastiv und dann fundierend benutzt worden ist. Kontrastiv[32], indem Wachter zunächst die Kabbala mit Spinoza in Verbindung gebracht und so abgelehnt hat. Die Inbeziehungsetzung hatte allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt, 1699, eine Brisanz in sich, die zu einer radikalisierenden Motorik führen konnte. Das hat sich dann 1702 ausgewirkt, als Wachter im Elucidarius die Verbindung von Spinoza und Kabbala positiv wendete und jetzt als fundierend ansah, fundierend zumal in einem für die christliche Trinität und Christologie entscheidenden Sinn.
Zentraler Angelpunkt dieser ‚volte-face‘ vom kontrapräsentischen zum fundierenden ist allerdings Buddes Kritik an Wachter und seine eigene Inanspruchnahme der Kabbala gewesen. Man mag sich darüber wundern, denn Wachter ist 1702 keineswegs ein Anhänger Buddes geworden, und auch Budde hat nach der Veröffentlichung des Elucidarius 1706 alles andere getan, als Wachter zuzustimmen. Doch gibt es auch Gemeinsamkeiten, selbst wenn sie erst im der Distanz aufscheinen. Es ist hier möglich, wieder die Probe aufs Exempel zu machen, indem wir ein Stück weit zurück aus dem unmittelbaren Milieu der Kombattanten weichen und statt dessen die Stellung Gundlings zu dieser Kontroverse beachten. Man hat diese Möglichkeit bisher nicht wahrgenommen, doch die Involvierung Gundlings ist eindeutig auszumachen. Gundling hat als Freund und oft dissentierender Kollege Buddes diese Debatte verfolgt und begleitet. Als er 1706 seine Historia philosophiae moralis in einer Weise anlegte, die die hebräische Philosophie nur als eine unter den ‚barbarischen‘ begreift, war eine Vorentscheidung in seiner Stellung zur Debatte bereits gefallen: Gundling mißtraut jeder sakralen Sonderstellung jüdischer Traditionen, und er mißtraut, ganz im Sinne der Risikowahrnehmung von Jakob Thomasius, der Kabbala als mystischer, also enthusiastischer, also potentiell fanatischer Philosophie. „Alle mystische Philosophie”, sagt er kategorisch, „ ist äußerst suspekt: weil sie obskur, änigmatisch, schwierig ist (...).” Klar sieht er die neuplatonische Grundierung, die in Knorrs Kabala denudata durchscheint, und er sieht auch die trinitarischen Interessen, die wiederum zu diesem Platonismus motivieren. „So schien es Knorr, als wäre er bereits zu den intimeren Geheimnissen der kabbalistischen Literatur vorgedrungen, und dennoch ist er lediglich More gefolgt, oder vielmehr dem Schöpfer des so verachteten Lebens, dem die Mysterien der Trinität von seinen Priestern eröffnet werden.” Und Gundling kann sich eines Wortspiels nicht enthalten: „Er hat uns eine entblößte Kabbala gegeben, aber würde doch nur jemand entblößen, zu welchem Zweck ein so großer Apparat aufgebaut und gleichsam in ein einziges Chaos zusammengeworfen wird!”[33]
Doch als Gundling den philosophischen Hintergrund der Kabbala – so wie sie bei Knorr dargestellt ist – analysiert, wird er durchaus ernst. Er spitzt seine Kritik auf den Begriff der Emanation zu und trifft damit den entscheidenden Punkt in Wachters Elucidarius cabalisticus, der im gleichen Jahr 1706 erschien wie Gundlings Historia philosophiae moralis. „Eines ist noch gegen die Ansicht der Kabbalisten einzuwenden, die behaupten, diese Welt sei durch Emanation von Gott geschaffen; und man muß sehen, ob sie des Spinozismus überführt werden können oder nicht. Sie geben in der Tat zu, daß vor der Schöpfung der Welt Gott alles in einfacher Weise gewesen ist, die Welt dagegen dann existiert hätte, als Gott sich durch Emanationen und Effluxionen vom Höchsten zum Geringsten expliziert und ausgewickelt und so die verschiedenen Formen und Ordnungen der Dinge geschaffen hat. Die Domitianische Frage [Atheismus oder nicht?] scheint zu sein, ob damit Gott und Welt zusammengeworfen sind, oder ob eine Essenz, aus der etwas emaniert und hervorfließt, völlig verschieden von dem sein kann, das emaniert. Ist nicht etwa klar und deutlich, daß nichts von sich selbst getrennt werden kann, und was einmal dasselbe ist, immer dasselbe ist, und seine Einheit unteilbar? Denn wenn die Emanationen der göttlichen Substanz Gott gewesen sind, als die Welt noch nicht geschaffen war, werden sie auch heute noch er sein. Sprechen wir klarer: wenn die Substanz Gottes eine teilbare Substanz ist, und sich aus ihrem Busen heraus aussprengen konnte, und das, was zusammengezogen und geronnen war, gleichsam erhalten hat und es schließlich zu sich wieder zurückführen und umwenden kann, was, frage ich, wird das anderes sein, als ein Komplex mehrerer Göttlichkeiten, die dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind? In dieser Lage haben die Kabbalisten sicher so argumentieren und meinen müssen; oder, wenn ihnen der Geist anders stand, haben sie selbst nicht gewußt, was sie gemeint, was sie gesagt, was sie geglaubt haben.”[34]
Es ist nicht einmal nötig zu spekulieren, ob Gundling hier bereits den Elucidarius im Blick hat oder die Verbindung einer emanationstheoretisch verstandenen Kabbala zum Spinozismus selbst herstellt. Deutlich ist nämlich in jedem Fall, daß es für Gundling ganz gleich ist, ob nun Emanation der Materie aus Gott oder die Identität der Materie mit Gott vorliegt. Bei ihm beobachten wir ein bewußtes Nivellieren des Unterschiedes zwischen Emanation und Identität. Dieser Unterschied tut, so Gundling, nichts zur Sache. So hat er es in seinen Plato atheus-Aufsätzen getan, und so tut er es auch im Fall der Kabbala. Doch man kann sich fragen, worin ein solches unwirsches Nivellieren motiviert sein mag. Immerhin ist es genau diese Geste, die dazu führen würde, daß zwischen Wachter I und Wachter II keinerlei pointierte Kehrtwendung mehr wahrzunehmen wäre, nur noch der Wechsel von der Verneinung zur Bejahung. Entscheidend ist vor allem auch, daß Gundlings Nivellierung sich gegen Budde und Wachter richtet.
Der Spinozismus im Jüdenthumb hatte ja Spinoza und Kabbala in Zusammenhang gesetzt, aber beide verworfen, weil Gott als Natur, als Ausdehnung gesehen und insofern die Welt vergöttert würde. Im 1702, nach Buddes Einspruch in den Observationes selectae [35] verfaßten Elucidarius cabalisticus dagegen war bekanntlich die These von der Gleichförmigkeit von Spinoza und Kabbala beibehalten worden, aber nun beide anders interpretiert und vor allem gutgeheißen. Der Unterschied in der Interpretation betraf aber genau jene neuplatonische Figur der Emanation, die Gundling mit der Identität von Gott und Natur nivelliert haben wollte.[36] Wachter hatte sich darauf besonnen, die Differenzierung zwischen ‚Natura naturans‘ und ‚natura naturata‘ zu akzeptieren und als Bewahrung vor dem Pantheismus zu deuten. Seine Interpretation eines Emanationsverhältnisses zwischen Gott und Natur zielt auf die Aussage, daß Gott und Natur dann keineswegs vermischt zu denken wären.[37]
Warum aber mag Gundling so sehr an einer Nivellierung dieser Begrifflichkeiten gelegen sein? Hier scheint mir ein zorniger Skeptizismus eine Rolle zu spielen, der die theologisch-philosophischen Debatten um die Natur Gottes aus ihrer Subtilität herausholen wollte, und die feinen begrifflichen Differenzierungen als Augenwischerei enttarnen. Ich halte es für durchaus möglich, daß Gundling auch deshalb gerade 1706 beginnt, Platon selbst für die atheistischen Konsequenzen seiner Tradition verantwortlich zu machen, weil er an Wachters Elucidarius deutlich sehen konnte, daß das Operieren mit Emanationsmodellen geradewegs auf einen Spinozismus herauslaufen konnte. Dann aber wäre die Situation einer Philosophie ohne normative Elemente da.
Die zerdehnte Situation von lurianischer Kabbala und Spinoza ist durch das Stichwort ‚Neuplatonismus‘ noch um einiges weiter zerdehnt worden, aber das war nicht Gundlings Schuld, sondern lag im Vorgehen Wachters begründet. Wachter mochte sich ja von Buddes Einwänden, die dieser 1700 gegen sein erstes Buch gemacht hatte, so weit haben beeinflussen lassen, daß er die Kabbala tatsächlich aus dem Vorwurf der Identifizierung von Gott und Natur entlassen mußte. Aber er hat Budde sozusagen gleich links überholt und mit der Zugabe einer Suche nach natürlicher Religion und uralter Trinität in der Kabbala mitsamt dieser nun auch Spinoza in das Feld der legitimen Ressourcen hineingeholt. Gegen diese Tendenz bei Budde – und nun auch bei Wachter –, Theologisches in platonisierenden Gedankenmodellen finden zu wollen, hat Gundling meiner Vermutung nach mit seiner Nivellierung Einspruch erhoben.
Daß Wachter, in deutlicher Abhängigkeit von den Spekulationen des Helmont-More-Conway-Kreises Spinoza – und der Kabbala – eine Christologie unterstellte, die den alexandrinischen Logos-Spekulationen analog war, war in der Tat ein starkes Stück.[38] Nach dem Vorbild der Principia philosophiae Antiquissimae et Recentissimae, die aus diesem Kreis hervorgegangen waren und unter Berufung auf des Latitudinarier George Bulls Defensio fidei Nicaenae, die in denselben Jahren um 1690 erschienen war,[39] hat Wachter ja behauptet, die Kabbala habe mit den Sefiroth christologisch die ‚Söhne Gottes‘ ausgedrückt, in denen dann die weiteren Kreaturen existieren – und Spinoza habe ebendiese Christologie in seine Metaphysik überführt, in der Gott die unendlichen Modi hervorbringt, welche wieder die endlichen Modi in sich enthalten.[40] Das war die ideale Weise, Budde mit seinen eigenen Intentionen zu schlagen. Budde selbst hatte sich ja gegen den frühen Wachter der Rettungsemphase bedient und gesagt, man solle nicht „ohne Notwendigkeit [die Kabbalisten] mit dem Mal der Gottlosigkeit brandmarken”.[41] Diese Emphase (als Gegenhabitus zur ‚Ketzermacherei der Ultra-Orthodoxen) konnte inhaltlich ganz unterschiedlich besetzt werden, man hatte aber immer die ‚Betroffenheit‘ für sich. So reklamierte Budde in diesem Fall die Seite der Toleranz für sich und stellt den Gegner auf die Seite der Ketzermacher. Das war natürlich genauso absurd, wie Wachters pseudo-orthodoxe Polemik gegen Spaeth windschief und überzogen war. Aber man war bestrebt, sich solche Rollen im Konflikt zuzulegen. Jetzt aber konnte Wachter selbst in die Rettungsemphase gegen die Atheismus-Unterstellung einstimmen und sogar die große Bemühung Buddes um ein Aufspüren der Trinität schon in der natürlichen Religion der Patriarchen bestätigen. Er meint selbst in der Kabbala die Herkunft dieser Trinität sehen zu können und sagt: „Das ist das größte Argument zum Tolerieren der Kabbala.”[42] Das paßte sogar zu der ursprünglichen Intention Knorrs bei der Publikation der Texte von Herrera und anderen, da der Millenarist Knorr zeigen wollte, daß das Christentum nichts als die Kulmination jüdischer Vorstellungen war.[43] Wachter jedenfalls scheint so überzeugt von der Wirkung dieses Arguments gewesen zu sein, zusammen mit der Beobachtung von Parallelen in der Verneinung der Willensfreiheit bei Spinoza und den Calvinisten, daß er sich in den Jahren vor 1702, als er den Elucidarius verfaßte, auf eine Professorenstelle im calvinistischen Duisburg bewarb.[44] Noch 1712 hat er seine Theorie der spinozistisch-kabbalistischen Trinität in eine großangelegte Neudeutung der patristischen Logos-Theologie umgesetzt.[45]
Genau besehen handelt es sich hier aber um eine Umdrehung der Debatte um Spinozismus und den Platonismus von Cambridge. So wie Leute wie Budde die platonistischen Spekulationen als Ressource verteidigten, um vor Materialismus und Sozinianismus sicher zu sein – und in dieser Linie wurde auch gemeinhin Spinoza gesehen –, mußte es absurd scheinen, wenn nun genau dieser Denker im Rücken der Debatte als Spiritualist wieder auftauchte. Es stellte den ganzen Aufwand auf den Kopf. Es war ein raffinierter Schachzug. Während Wachter sich, taktisch gesehen, mit dem ersten Buch in die Diskussionen um die Vemeidung von Aberglaube eingeschaltet hatte, hat er mit dem zweiten das Muster der Absetzung vom Materialismus und der Ressource für die Trinität als Einstiegspunkt gewählt. Das war sein Versuch, Spinoza in diese Linie der ‚Grammatik‘ der philosophischen Risikowahrnehmung der Zeit einzuschleusen.
Übrigens hat Gundling, der den taktischen Umgang mit Theorienmotorik perfekt beherrscht hat, trotz seiner Ablehnung von Kabbala und Spinoza in einem anderen Bereich ganz ähnliche Mittel benutzt, wie Wachter es getan hatte. Gundling war überzeugt davon, daß es der naturrechtlichen Debatte guttun würde, Hobbes als legitimen Klassiker der Tradition anzuerkennen, statt ihn immer nur als Atheisten zu verteufeln. Er wollte deshalb Hobbes in den Diskurs einschleusen, und auch er mußte dazu eine Umarmungsstrategie gegen die Theologen vorbereiten. Daß auch Gundling dabei auf Henry More als Garanten der Ressourcen, die Leuten wie Budde so wichtig waren, zurückgreift, mag Zufall sein; die Parallele in der Taktik selber ist es sicher nicht. Gundling hat die Theologen überezugen müssen, daß Hobbes Worte vom ‚Körper Gottes‘ nicht kruder Materialismus seinen, sondern irgendtwas anderes, harmloseres. Und dazu ruft er aus, daß wenn More sich die Präsenz Gottes als unendliche Ausdehnung vorgestellt habe, ihn doch deswegen niemand vor einen Atheisten gehalten.[46] Gundling unterschlägt dabei Mores spiritualistische Interpretation der Ausdehnung ganz in der Weise, wie in den ‚Deus sive natura‘-Debatten extremer Materialismus und extremer Spiritualismus oft verwischt worden sind. Es war immer vor allem die Frage, was man mit ihnen erreichen wollte.
Die verschiedenen Einschätzungen über Gott und Natur, Geist und Materie sind nicht nur heute für den verwirrend, der versucht, sich ein Bild von den Debatten und Positionen deutscher Intellektueller nach 1700 zu machen. Sie sind auch damals schon verwirrend genug gewesen, und wir müssen uns unseren idealen zeitgenössischen Leser in einiger Orientierungsnot vorstellen, auch und gerade dann, wenn er sich die Formel ‚Deus sive natura‘ zu eigen gemacht hat. Gab es denn Versuche, aus dieser Not zur Seite hin auszubrechen?
Es gab sie in der Tat. Und für sie standen wieder einige Kategorien zur Verfügung, die man als Student in Halle oder Jena oder als Leser der Journale und Neuerscheinugen internalisiert hatte. Es waren die Kategorien der Logomachie, der Affektenlehre und des Pyrrhonismus. Diese Kategorien waren dann von Nutzen, wenn man selbst unorthodoxe Ansichten pflegte, aber sich nicht in die Arena der theoretischen Schaukämpfe begeben wollte, sondern diese allenfalls skeptisch beobachten und kommentieren. Zurückhaltung war die Alternative zum Habitus des Bekennens und der Selbstaufopferung, wie ihn einige der Freidenker wie etwa Theodor Ludwig Lau zur Schau gestellt haben. Beobachten wir also, was ein zurückhaltender Radikaler nach 1700 mit der Formel ‚Deus sive natura‘ gemacht hat. Beispiel kann hier Peter Friedrich Arpe sein, ein Jurist und Gelehrter aus dem Milieu von Kiel und Hamburg.[47] Dieser Mann hat Radikalität sublimiert. Er schreibt über das Fatum, also der stoischen oder auch spinozistischen Kategorie des universellen Determinismus, aber er tut dies nur als Bibliographie. Er sympathisiert mit Hermetismus und Naturmagie, aber nur als antiquarischem Studienobjekt. Er sammelt clandestine Texte, aber verfaßt keine. Er schreibt – auch er – eine ‚Apologie‘, doch weiß keiner so recht, ob er scherzt oder nicht,[48] denn seine Rettungsemphase will ausgerechnet den ‚Erzatheisten‘ Vanini retten: 1712 in seiner Apologia pro Vanino, und das in einer brillant vorgetragenen fiktiven Gerichtsverhandlung.
Diese Gerichtsverhandlung bietet uns die Gelegenheit zu sehen, wie sich der sublimierende Radikale Arpe im Fall der Formel ‚Deus sive natura‘ orientiert, denn seine Beschäftigung mit Vanini gibt natürlich Gelegenheit, diesen Punkt anzusprechen. Überhaupt scheint Arpe das ganze Buch nur geschrieben zu haben, um solche Gelegenheiten zu finden. Insofern ist das Buch topisch, und zwar eine Topik radikaler und brisanter Themen. Es ist deshalb ein Lehrstück in gelehrter Religions- und Gesellschaftkritik, aber nicht in der Perspektive, die wir in den Debatten über Moderne und Pantheismus kennengelernt haben. Arpes Kategorien sind diejenigen des liberinage érudit, und sein Lehrstück ist eines über die Zusammenhänge von Religion, Gesellschaft, Kritik und Denunziation.[49] Arpe selbst gibt an einer Stelle das Stichwort: politische Theologie. Von Daniel Georg Morhof sprechend, skizziert er spielerisch ein Buch, das noch lange Zeit ungeschrieben bleiben sollte. Ich zitiere die handschriftlich erweiterte, aber nicht mehr gedruckte zweite Fassung des Buchs: „Deinen Schiedspruch zur Anklage [Vaninis] hätte ich unterschrieben, da Du selbst [Morhof] eine politische Theologie zu schreiben vorgehabt hattest, deren erstes Kapitel ‚Über die Göttlichkeit der Fürsten‘ gehießen hätte, das zweite ‚Über deren göttliche Titel‘. Hier, sagt Plinius, gibt es den uralten Brauch, denen, die es wohl verdienen, den Dank so darzubringen, daß man sie den Göttern zurechnet. Und wer weiß nicht”, fügt Arpe spitz gegen die Katholiken hinzu, „daß der römische Pontifex euer Gott und das höchste Numen genannt wird, dem aber nichts Menschliches fremd ist.”[50] Den Begriff des Panaitios von der politischen Theologie, der von Varro tradiert worden war, aufnehmend, ruft Arpe die realen, menschlichen Gebrauchsweisen von ‚Gott‘ und ‚Göttlichkeit‘ in Erinnerung. Und in diesem Zusammenhang, in der Perpektive einer politischen Theologie, will er die Formel ‚Deus sive Natura‘ gesehen wissen. Den Titel ‚Gott‘, so Arpe, verleiht man im Bereich des Staatskultes schon leicht einmal einem Feldherr oder König.
Doch ganz wird es auch damit nicht belassen. Arpe geht auch auf die Feinheiten des spinozistischen Diktums ein. Über ‚natura naturans‘ und ‚natura naturata‘ will ich gar nicht viel sagen, es ist eine verborgene Klippe, an die viele unversehens anstoßen. Darüber vgl. David Nieto aus London.[51] Arpe muß sich mit der Kontroverse außeinandergesetzt haben, in der David Nieto, Rabbiner in London, des Spinozismus verdächtigt worden war. 1704 hatte Nieto zu seiner Verteidigung ein Buch De la Divina Providencia, o sea Naturaleza universal, o natura naturante: tratado theologico verfaßt.[52] Vielleicht hat Arpe in seinen Studien zum Theatrum fati, das er 1712 anonym veröffentlichte, diese Auseinandersetzung kennengelernt.[53] Jedenfalls zeigt es die fast schon internalisierte Vorsicht dieses Gelehrten, wenn er die Differenzierung in erste Linie für eine ‚Klippe‘ hält. In Deutschland war Theodor Ludwig Lau mit Lust über diese Klippe gesprungen – und hatte es büßen müssen: Mihi: Deus Natura Naturans: ego Natura naturata.[54] Gott sei die naturierende Natur, scheine ihm, und er selbst die naturierte. Der Sturm und Drang-Gestus, den Lau dabei verrät, kontrasrtiert in der Tat in extremer Weise mit Arpes ironisch-skeptischer Zurückhaltung. Er nämlich analysiert diese Klippe als Logomachie, als gefählichen Streit um Worte. „In beiden Worten, sowohl Gott als auch Natur gibt es offensichtlich eine Logomachie, eine Krankheit. Durch sie ist der, der von ihr ergriffen wird, verdüstert und weiß nichts, sondern ist krank in Fragen und Wortkriegen, aus welchen Neid, Hader, Lästerung, böser Argwohn und Schulgezänke solcher Menschen entspringt, die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit beraubt sind, die da meinen, Gottseligkeit sei ein Gewerbe. Tue dich von solchen.”[55] Das ist ein Paulus-Zitat, das Arpe da einmontiert, aus 1. Timotheus 6 Vers 4. Die Berufung auf die Stelle bei Paulus war nicht nur von Werensfels in seiner Logomachia eruditorum von 1716 vorgenommen worden, sondern überhaupt ein Topos in der antipedantistischen und antischolastischen Kritik, wie sie von Pietisten vorgebracht wurde, aber auch von den Anhängern einer ‚philosophia aulica‘ gutgeheißen werden konnte.[56] Vor allem ließ sich das Pauluswort mit dem psychologistischen Ansatz von Christian Thomasius und seinen Nachfolgern in Verbindung bringen, in dem die Affektenlehre der Menschenkenntnis-Literatur des Barock zu einem Instrument der Kritik geschärft worden war. Neid, Hader, Mißgunst sind auch in Arpes Anlayse der problematischen Glaubwürdigkeit historischer Quellen, die er im Pyrrho von 1716 vornimmt, die wesentlichen Affekte, die seiner Ansicht nach ein Historiker in Rechnung stellen muß.[57] Zudem waren Paulusworte immer gut, wenn man eine brisante Sache verkaufen wollte. Just an der Stelle im Traité des trois imposteurs, die ich eingangs zitiert habe, wird auf das Pauluswort vom Gesetz, das in unsere Herzen eingeschrieben ist, angespielt, um es dann auf fast schon perfide Weise mit Spinoza und Vanini zu deuten.[58]
Natürlich dient die politische Theologie Arpe in diesem Fall auch zur Verharmlosung. Er möchte, um Vanini zu schützen, die Formel von der Identität von Gott und Natur entschärfen. Wenn der Bereich, für den die Wörter gelten, nur der allzumenschliche des zivilen Gebrauches ist, dann kann Vaninis Besetzung der Natur mit der Vokabel ‚Gott‘ keine metaphysische Häresie sein, sondern ist nur der Sprechakt einer Überhöhung. Doch man sollte dieser Banalisierung auch nicht völlig vertauen. Die Tendenz zur Nivellierung der so ungeheuer komplex gewordenen Streitigkeiten, vor allem, was unerwünschte theologische Implikationen anging – mit dem Wort der Zeit ‚Konsequenzenmacherei‘ –, die schon bei Gundling angeklungen war, setzt sich mit der Betonung der politisch-zivilen Bedeutungsebene theologischer Begriffe allzu konsequent fort. Die neue Perspektive hat also auch Methode.
Dennoch kann man das Stichwort ‚Stoa‘ anhand der Reminiszenz an die ‚Theologia tripertita‘ weiterverfolgen. Es ist durchaus lohnend zu fragen, was denn noch das theoretische Dach sein konnte, unter dem sich eine radikalisierte Intellektualität aufhalten konnte, die gleichwohl nicht zu theoretischen Eskapaden in der Art Wachters oder Klippensprüngen in der Art Laus bereit war, die es ablehnte, sich mit waghalsigen Interpretationen in die Theoriemotorik der Zeit einzuschleusen. Für eine Gestalt wie Arpe wird dieses Dach in der Zusammenschau seiner Interessen und Veröffentlichungen letztlich sichtbar: es scheint mir ein gewisser Stoizismus und ein gewisser Pyrrhonismus – jeweils richtig eingesetzt – zu sein, der bei den zurückhaltenden Radikalen die weltanschauliche Klammer gebildet hat, unter der die frühaufklärerischen Strömungen eine Einheit finden konnten. Denn dann ließ sich zusammenführen: zum einen die Affektenlehre als Ideologiekritik gegen Vorurteile, Aberglauben, Geschichtsfälschungen und politischen Machtmißbrauch; zum anderen eine naturalistische Weltsicht, die aber nicht cartesisch-mechanistisch, sondern, wie auch bei Radikalpietisten üblich, eher chemisch-spirituell angelegt war. Der Vorteil war dann, daß die Naturbetrachtung relevant für moralische und gesellschaftliche Lehren blieb. Zum dritten das Interesse für Naturmagie, Divination und Hermetik, hinter dem ich eben diese Bevorzugung einer anticartesischen Tradition vermute, neben der aussondernden Beschäftigung mit Formen des Aberglaubens allerdings. Und schließlich viertens ein Pyrrhonismus, der als negativistischer Habitus den Impuls zur Kritik tragen konnte, ob er sich nun gegen die Theologie, gegen die Macht oder die dominierende Geschichte richtete.[59] Für die Religion blieb bei einer solchen universalen Skepsis jedenfalls nur noch ein Fideismus, oder, wenn man diesen ablehnte, eine vage äußere Annäherung über die natürliche Theologie.
Die konservative Variante dieser skeptischen Zurückhaltung von den spekulativen Debatten scheint mir übrigens die Physikotheologie gewesen zu sein, wie sie vor allem Johann Albert Fabricius in einem ganz außergewöhnlichen Patronagegeflecht in Norddeutschland populär gemacht hat.[60] Bei Fabricius war das Komplement der skeptischen Zurückhaltung nicht eine private ideologiekritsiche Radikalität, sondern eine im Sinne des ‚Newtonian Enlightenment‘ durchaus nach außen gerichtete Bejahung von naturwissenschaftlicher Empirie, um auf diesem konsensfähigen Wege die Existenz Gottes über die Bewunderung des Schöpfungsplans zu erreichen und so die christliche Religion zu stützen. Der Impetus dieser Variante ging nicht auf Kritik der Gesellschaft, sondern auf ihre stabilisierende Verbesserung.[61]
Arpe war Fabricius durchaus verflichtet, das zeigen viele Widmungen und Reverenzen, er pflegt auch dessen Stil, nicht so sehr selber zu schreiben, sondern bibliographisch sublimiert sich mit Kommentierungen auszudrücken. In der Sprache der Patronage war er also einer der ‚Klienten‘ von Fabricius. Doch hat er sich zweifellos mit seinem Stoizismus und Naturalismus dem angenähert, was sich in England als Radical Enlightenment gegen das christliche Satus-quo-Denken der Newtonianer abgesetzt hatte. Die Kritik an der Religion und an den Formen der Herrschaft hatte dort zu einer klaren, wenn auch oft geheimen, Opposition zu den konservativen Aufklärern geführt. Ein Blick auf die Stoa-Rezeption im Ciceronianismus dieser englischen Deisten zeigt im übrigen, daß sich diese politische Orientierung und pantheistisch-spinozistische, aber auch hermetisch-neuplatonische Spekulationen nicht ausschließen mußten. Toland hat politische Kritik an den gesellschaftlichen Funktionen der Religion wie Arpe geäußert, aber er hat dennoch seine Spekulationen über Gott und Natur im Sinne von Bruno und Spinoza gepflegt. Man war mit dem Ausspielen der skeptisch-politischen Karte also nicht unbedingt suspendiert von den Debatten über die Theorienmotorik – mit ihren Streitigkeiten um begriffliche Ressourcen und radikale oder konservative Auswirkungen in der Aneignung der Vergangenheit. Allerdings hat die Berücksichtigung des Politischen die Sicht in einen esoterischen und einen exoterischen Bereich differenziert. Exoterisch haben auch die englischen Deisten, trotz aller Kritik am Priesterbetrug, eine Zivilreligion für unerläßlich gehalten. Religion für das Volk bedeutet politische Stabilität. Aber esoterisch, für die, die intellektuell in der Lage dazu sind, sollte die pantheistische Vernunftreligion gelten.[62] In kleinen Zirkeln, so war die Theorie, aber auch die Praxis der Gruppen, die Margaret Jacob zur ‚radikalen Aufklärung‘ rechnet, konnte man solcher Vernunftreligion illusionslos ins Auge sehen. Das geschah dann gleichsam in einer Frühform der Freimaurerei.[63]
Selbst in diesen Zirkeln war es freilich noch offen, wie man genau den Pantheismus deuten sollte. Um noch einmal auf den idealen Leser zurückzukommen, den wir anfangs eingeführt haben, so hätte er sich auch dort zu entscheiden, ob er das ‚Deus sive natura‘ mehr materialistisch oder mehr spiritualistisch auslegen sollte, ob er dem Materialismus einen spinozistischen oder dem Spiritualismus einen hermetischen oder kabbalistischen Beigeschmack geben sollte, oder ob er gar Materialismus und Spiritualismus, mechanische und organische Metaphorik gar nicht als Gegensatz zu empfinden hätte. Er hätte sich in jedem Fall für eine theoretische ‚Erinnerung‘ an eine bestimmte Tradition entscheiden müssen, und zum Driften ihrer Motorik in eine radikale Richtung Stellung beziehen. In Deutschland wäre das Esoterische dieser Anschauungen wahrscheinlich kaum – zumindest nicht in dieser frühen Zeit – in den Kontext politischer Radikalität gestellt worden. Das Esoterische markiert hier oft, wie bei Arpe, eher einen privaten Freiraum verborgener Interessen und Anschauungen, eine epoché gegenüber den verordneten Ansichten der Gesellschaft. Schon ein solcher Freiraum konnte allerdings unter den gegebenen Umständen ein kleiner Gewinn sein, ein Ort jedenfalls, in dem das ‚Deus sive natura‘ weniger aufgeregt gehandelt wurde, als es in dem oft gereizten und theoriegeladenen Klima der deutschen Frühaufklärung sonst geschehen ist.
Martin Mulsow © 2 Sep 2002