Olaf Simons

Eine Genealogie der Münchner »Buchhandels-Gerechtsamen«

 

1698
Johann Hibler
von 1677-98 Angestellter der Buchhandlung von Geldern
Konzession für kleine Bücher
1744
Johann Hibler, Sohn
1748
Johann Gastl, Kauf
1753
Johann Gastl
Sohn
1766
Johann Nepomuk Fritz
Schwiegersohn
1784
Josef Lentner
heiratet Witwe Fritz
1810
Ignaz Lentner
Sohn
1841
Wilhelm Keck
Kauf
1856
1609
Johann Hertzroy
aus Ingolstadt
1625
Cornelius Leysser
heiratet Witwe Hertzroy
1645
Johann Wagner
kauft Buchladen Rindermarkt 3
führt ab 1669 mit Schwiegerssohn einen zweiten Laden
1685
von Geldern
1691
Witwe von Geldern
1701-33
Johann Jacob Remy
Schwiegerssohn, hinterläßt Betrieb 1733 verschuldet
1752
Franz Xaver Crätz
Kauf
1766
Josef Alois Crätz
Sohn
Geschäft Kaufingerstr. 5
1786
Josef Lindauer
1816
Lindauer, Sohn
1823
C. F. Sauer
ehemaliger Geschäftsführer
heiratet Witwe Sauer
1852
1645
Lucas Straub
heiratet Witwe Leysser
erhält Konzession für Betrieb einer Druckerei
1692
Lucas Straub
Sohn
1733
Johann Jacob Vötter
heiratet Witwe Straub
1765
Anna M. Vötter
Witwe
1785-1807
Anton Franz
ehemaliger Faktor
1500
Johann Schobser
aus Augsburg
1530
Andreas Schobser
Sohn
1564
Adam Berg
1610
Anna Berg
Witwe
1629
A. Berg, Sohn
1634
Michael Segen
heiratet Witwe Berg
1655
Johann Wilhelm Schell
Schwiegersohn
1668
Sebastian Rauch
heiratet Witwe
1696
Rauch, Witwe
1703
Matthias Riedl
Erbe
1723
Magdalena Riedl
Witwe
1748
Geschäftsführung durch
Johann Jacob Vötter
1756?
Johann Christoph Mayer
nach dessen Tod: Geschäftsführung durch Witwe Mayer
1785
Josef Zängl
Schwiegersohn
1826
Josef Rösl
Kauf
1850
Heinrich Rösl
Sohn
1868
1597-1654
Nicolaus Heinrich
aus Frankfurt
heiratet Tochter Bergs
in zweiter Ehe: Papiererswitwe Margaretha Wurm
1656
Johannes Jäcklin
aus Hüflingen, Schwaben
Konzession für Druck und Verlag, später auch für Buchhandel
Geschäft am Rindermarkt
1710
Susanna Jäcklin, Tochter
1717
Heinrich Theodor von Cöln
heiratet Jäcklins Tochter
1750
Franz Josef Thuielle
Konzession für Druck und Verlag
1789
Franz Josef Hübschmann
Kauf
1822
Kajetan Hübschmann &
B. Spockmair
1839
Martin Strazzer
Kauf
1854
1751
Lutzenkirchner
1756
Johann Theodor Osten
heiratet Witwe Lutzenkirchner
1778
Johann Baptist Strobl
aus Aichach
Kauf
1807
Ernst August Fleischmann
Kauf
1859

Daten nach:
Pius Dirr, Buchwesen und Schrifttum im alten München. 1450-1800 (München, 1929).

 

 

1Buchhandel unter den Bedingungen der städtischen Konzessionierung

Wer in der - im frühen 18. Jahrhundet von gewaltigen Befestigungsanlagen geschützten und nicht zuletzt darum in ihren Wachstumsmöglichkeiten beschränkten - Stadt ein Geschäft eröffnen wollte, bedurfte einer von den städtischen Behörden erteilten Konzession. Diejenigen, die bereits Konzessionen im selben Gewerbe innehielten, achteten mit Eifer darauf, daß die Stadt sie vor Konkurrenz bewahrte. Städtischer Handel war unter den Bedingungen der Konzessionierung in seinen Entfaltungsmöglichkeiten beinahe so restringiert wie unter dem Zunftsystem des Mittelalters. Zu Geschäftsgründungen kam es fast ausschließlich innerhalb des genealogischen Gefüges, in dem Konzessionen mitsamt den Geschäften von den Konzessionsinhabern auf deren Hinterbliebene - Witwen, Söhne, Töchter - weitergegeben wurden. Selten wurde einem von außen kommenden Bewerber die Eröffnung eines neuen Geschäftes gestattet. Ebenso selten gelang es einem Bewerber, eine verwaiste »Gerechtsame«, so der originäre Terminus, mitsamt einem erbenlos gebliebenen Geschäft zu erwerben. In der Regel gelangte man an eine Buchhandlung in einer fremden Stadt, indem man in sie einheiratete. Öfter spalteten und differenzierten sich Konzessionen - dann etwa, wenn ein Geschäftsinhaber einem Schwiegersohn ein eigenes Geschäft zugestehen wollte. In solchen Fällen drangen die Konkurrenten darauf, daß bei der Teilung der Konzession nur eingeschränkt konkurrenzfähige Firmen entstanden: Eine Gerechtsame, die den Verkauf sowie den Druck und Verlag von Büchern gestattete, konnte zu diesem Zweck aufgespalten werden in eine Gerechtsame, die den Betrieb eines Ladens - ein reines Verkaufsgeschäft - konzessionierte, und eine, unter der die Druckerei und der Verlag fortbestanden. Der Buchhandel wuchs und differenzierte sich in der Folge im genealogischen Gefüge.

Im Jahr 1500 wurde die erste Münchner Buchhandels-Gerechtsame eröffnet. Fast 100 Jahre später drangen deren Erben auf eine Teilung des Geschäfts. 12 Jahre darauf bewilligte die Stadt Johannes Hertzroy aus Ingolstadt die dritte Konzession. 1645 führten auch bei dieser familiäre Gründe zur Teilung des Geschäfts. Johannes Wagner betrieb fortan einen Buchladen - mit solchem Erfolg, daß er 1669 gemeinsam mit seinem Schwiegersohn einen zweiten Laden unter dieser Konzession eröffnen konnte. Lucas Straub pflegte dagegen nach 1645 den anderen Teil der Konzession, nun Münchens vierte Buchhandels-Gerechtsame, mit einem reinen Druckereigeschäft.

1698 machte die Witwe von Geldern, Erbin der zwei Buchläden, die aus der ehemalig Wagnerschen Gerechtsamen entstanden waren, vor der Stadt die Eingabe, man möge ihrem Gehilfen Johannes Hibler eine eigene Konzession zugestehen.[1] Ein symptomatischer Aktenkrieg entzündete sich. Rauch und Jäcklin setzten sich gegen den Antrag zur Wehr. Es ginge, so ihre Argumentation, der Witwe nur darum, über einen verdeckt ihr unterstehenden dritten Laden das Monopol am Ort an sich zu reißen. Die Stadt gab Hiblers Begehren statt, beschränkte sein Geschäft jedoch auf den Vertrieb »kleiner Bücher«. Offenbar sah man noch immer ein Wachstumspotential im Buchhandel. Die Witwe von Geldern war wenig später die erste, die vor der Stadt klagte, Hibler verkaufe weit mehr als die ihm zugestandene Ware. München hatte nun fünf Buchhandlungen, zwei davon mit eigenem Verlag, sowie das Druck- und Verlagsgeschäft Lucas Straubs. Mehrere Betriebe handelten mit Stichen und Karten. Zudem unterhielt das Buchbinderhandwerk eigene Läden. 1751 wurde die sechste Buchhandels-Gerechtsame eröffnet. Zur großen Buch- und Verlagsstadt wuchs München erst mit der Wende ins 20. Jahrhundert.

2Was las man in München? Ein Besuch in Jäcklins Buchhandlung

Bereits vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht scheint die Lesefähigkeit - anders als die Fähigkeit zu schreiben - weit verbreitet gewesen zu sein. In den Geschäften wurden Warenausgänge und Geldeingänge von Lehrlingen schriftlich erfaßt. In den Bürgerhäusern lasen Männer und Frauen. Hauslehrer unterrichteten die Töchter, während man die Söhne auf Schulen schickte. In Romanen aus den protestantischen Gebieten sieht man immer wieder die Lesefähigkeit bis in die unteren Schichten der Städte ausgebreitet: Dienstpersonal kann Briefe und Romane lesen. Der Buchhandel verkaufte Seiten und kleine Büchlein, anhand derer Eltern ihren Kindern das Buchstabieren und das Lesen beibringen konnten. Wer im privaten oder im beruflichen Verkehr schreiben mußte, tat es regellos - und nahm sich im Bedarfsfall einen Berufsschreiber, der seinen Brief ordentlich aufsetzte. Auf dem Land grassierte der Analphabetismus. Zum bürgerlichen Publikum der Residenzstadt kam der Hof. Klöster und kirchliche Gymnasien schufen in München weiteren Bedarf an Gedrucktem. Die Tatsache, daß 5 Unternehmen von der Stadt mit 20.000 Einwohnern innerhalb und weiteren 20.000 Einwohnern außerhalb der Mauern leben konnten, wirft ein Schlaglicht auf den bestehenden Markt wie die Tatsache, daß in München zwei Zeitungen miteinander konkurrieten. Bei Auflagen von 800 bis 1.000 Exemplaren müssen sie die Bürgerhäuser und das Umland abgedeckt haben.[2]

Man stößt zuweilen in Sekundärliteratur des 20. Jahrhunderts auf die Bemerkung, daß die erste Tageszeitung 1702 in London erschien. Der Rest Europas wartete, so die heimliche Implikation, bis zur Aufklärung auf die Zeitung. Zeitzeugen sahen es anders: Zeitungen waren Ende des 17. Jahrhunderts in den Städten wie auf dem Land in ganz Europa die gängiste Lektüre. In München verlegte Rauch, mit dem Postboten im Titel, die Wöchentliche Ordinari Zeitung. Das zweite Organ hatte Johannes Jäcklin gegründet. Es war, mit dem Mercur im Titel, das etwas umfangreichere der beiden Blätter: die Mercurii Relation, oder Rechte Ordinari Zeitung.[3] Blätter in Edinburgh, wie die Scots Courant, Containing Occurrences both at Home and Abroad, die man für drei Half-Pence im Exchange Coffee-House kaufte, Blätter in London und Wien offerierten ihren Lesern mit den unterschiedlichen Verspätungen des jeweiligen Postwegs, den jede Meldung auf dem Weg durch Europas Gazetten hinter sich bringen mußte, dieselben Nachrichten, die mit beiden Organen Münchens Leser erreichten. Europas Zeitungen waren Nachrichten aus der Fremde vorbehalten und beuteten gemeinsam dazu die führenden niederländischen Blätter aus. Der Kunde erhielt auf den einzelnen, zuweilen gefalteten Seiten während der Kriege, die in den Jahren zwischen 1683 und 1721 Europa eher zusammenzogen als auseinanderdividierten, Meldungen von Schlachten in Rußland, Aufständen in Ungarn, Verhandlungen in den Niederlanden, Hof-Ereignissen in Madrid, Paris und Wien. Der Ort und das Datum eröffneten - es mußte sichtbar werden, wie lange die jeweilige Nachricht unterwegs war. Unkommentiert und ohne Nennung des Verfassers folgten die Berichte. Der nordeutsche Buchhandel machte in Anbetracht dieser rohen Materie ein wachsendes Geschäft mit neuen »Zeitungs-Lexica«. Ihnen ließ sich zumindest entnehmen, wo welche Orte lagen, was welche Fachbegriffe - vorwiegend aus dem diplomatischen Geschäft und der militärischen Berichterstattung - bedeuteten. Auf die Tageszeitung konnte München unter diesen Bedingungen wie die meisten Orte Europas verzichten - die Zeitungen öfter als drei Mal pro Woche herauszubringen, hatte, da die Berichterstattung Tagesaktualität nicht gewinnen konnte, keinen weiteren Sinn. Anders sah die Lage letztlich nur in London aus. In der Stadt, die mit einer halben Millionen Einwohnern eine ganz eigene Unübersichtlichkeit gewann, entstand ein neuer Markt für den gedruckten Veranstaltungskalender. Die Daily Courant übernahm 1702 diesen Markt und erschien in der Folge als Tageszeitung. In Städten wie München, Halle und Leipzig blieb der lokale Veranstaltungskalender Sache vor allem der mündlichen Werbung vor Ort - die Zeitung blieb der Außenberichterstattung vorbehalten und konnte diese, ohne daß daraus eine epochale Frage erwuchs, mit dem dreimal wöchentlichen Erscheinen, absolvieren.

Schwierig ist es, Überblick über Münchens Bücherkonsum zu erlangen. Wohl erlaubt der VD17 einen Blick auf Münchens Buchproduktion, nicht jedoch darauf, welche Bücher im überregionalen Tauschgeschäft, dem sich diese Produktion anbieten mußte, in Münchens Buchläden gelangte. Johann Nepomuc Fritz, »churfürstl. akademischer und bürgerl. Buchhändler in München nächst dem schönen Thurm«, veröffentlichte 1774 ein Vollständiges Verzeichniß der lateinischen und deutschen Bücher, nebst einem kleinen Anhang von Musicalien, welche bey um beygesetzte billige Preise zu haben sind. Engstens bedruckt führte sein Katalog auf mehreren hundert Seiten das auf, was primär in München interessierte - vor allem katholische Theologica des alltäglichen Gebrauchs. Gleichzeitig konnte man 1774 in München jedoch nicht minder weltstädtischen und europäischen Interessen nachgehen. Addison, Shaftesbury, Rousseau waren dem Münchner Kunden des Jahres 1774 keine Fremden mehr. Die Situation scheint im frühen 18. Jahrhundert eine andere gewesen zu sein. Die Akten des Münchner Stadtarchivs lassen an dieser Stelle den genaueren Blick auf wenigstens eines der Unternehemen zu: Johannes Jäcklin, Inhaber der zweiten Münchner Buchhandels-Gerechtsamen, beschäftigte 1707 die Behörden mit einem Inventar seines Geschäfts. An sechs Tagen Ende August, Anfang September zählte ein städtischer Schreiber, was der »alte Jäcklin« seiner »ledigen Tochter« vermachen würde. Die Zählung eröffnet »yber die vorhantene Bücher in dem Jäcklinschen Bücher gewölb. vorgenommen worden den 23. Augs. ao. 1707«. Der erste Eintrag beläuft sich auf »322 Exemplaria, Eremus Thaumaturga S. P. Augustini. od[er] wundterbahrlichs Küssen des Hl. Erzvatters [...] in 4to«. Am 25. August folgen: »279 Exemplaria Ph[i]l[osoph]ia universa Speculativa Peripatetica. R. P. caietani felicis verani [...] in folio.« Das Werk hat noch zwei Folgebände, von denen 269 und 241 Exemplare im »Büchergewölb« liegen. Der Schreiber notiert auch an den anderen Tagen, an denen man zusammenkommt, durchgehend Theologica. Am Ende beläuft sich die Liste auf 8.939 Bücher, aufgeteilt auf 26 Posten von durchschnittlich 344 Exemplaren. Aussagekräftiger als die Durchschnittszahl ist die Spanne: Von den einzelnen Auflagen sind 36 bis 819 Stück vorhanden. Die Maximalzahl läßt vermuten, daß Jäcklin mit 600 bis 1.000 Exemplaren rentabel druckte.

Ein für die Kundschaft interessant bleibendes tägliches Geschäft konnte Jäcklin mit diesen 26 Titeln nicht bestreiten. Im »Büchergewölb« lagerte, soweit ersichtlich, was auf langfristigen Absatz gedruckt war. Schon die Zeitung fehlte hier. Die kurzfristig absetzbare Ware scheint direkt in den Verkauf gegangen zu sein. Ein mehrseitiges Heft im heutigen A5-Format offenbart, was über den Ladentisch abgerechnet wurde. Es fehlt eine Jahresangabe. Sicher ist, daß das Heft aus einem Schaltjahr vor Jäcklins Tod 1710 stammt - letzte Schaltjahre waren vor 1710: 1708, 1704 und 1696. Eine undatierte Notiz am Ende hält fest, wie das Heft zu den Akten kam:

NB. Diese Rechnung hat man auf begehren H. Hofrhat Jekhlins, weillen solche nit mit des bedienten Peter Reichenbergers seiner Ladenrechnung Ybereinsgestimmt, seind in etwas different gewesen, Zum ambt ybernommen, auf welche aber kein regard mehr zumachen ist weillen die gelter schon langtens verrechnet worden.[4]

Ein Blick auf die Titel läßt vermuten, daß sich das Tagesgeschäft des Jahres 1696 nicht wesentlich von dem des Jahres 1708 unterschied. Einige der Titel lassen sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München nachweisen, mehrere indes nur in Auflagen, die erst nach Jäcklins Tod datieren:[5]

 

Einnahm Mensis febris den 27.ten
Im Laden

den 27 febr. 2 karwochen Andacht in 8vo fl. 30
2 Meßbüchl in 8vo ,, 12
1 Michon Cassus in 4to ,, 20
1 karwoch Andacht 8vo gb. ,, 25
den 29-- 1 Gaill observationes in fol. ,,    4   30
1 Sigmons Rettung in 8vo. ,, 20
4 Evangeligen in 8vo ,, 20
den 1. Mertz 6 Canisij vita in 8vo ,,    2  
1 Meßbüchel in 8vo ,, 5
Vor Ein P. u. ein frater auß der   
Soc. Jesu ein almoßen auß
Befehl gegeben
1 Michon Casus in 4to }
1 Canisis vita in 8vo }
1 Craßet heiliger Dodt 8vo }
1 Himlischer Außfluß in 8vo }
Latus    8   42 x




Latus Herryber fl.    8   42 x
den 2. Mertz     1 Nakateni Pallmgarten 8vo    1   --
1 karwoch andacht 8vo 15
12 karwoch andacht 8vo    3   --
1 Meß Büchl in 8vo 5
2 Meß Büchl in 8vo 12
1 Elffens Panis Coeli 8vo 45
3 Buch Monatheiling    3  
1 Lang Seelenwaydt 8vo 10
den 3 1 Quelbrun gebetbuch 8vo
1 Leben Christi in fol.    1   --
den 4 7 karwoch andacht in 8vo    1   45
2 katholischer Seelwecker 32
den 5 8 Crasset heilieger Todt 8vo    2   40
1 Exercitia Christl Pietatis 8vo
1 Roßenecker rechbüchel 8vo
2 karwoch andacht 8vo
Latus fl.    23   54 x 




Die Einträge laufen noch über einige Seiten fort. Vom 27. Februar bis zum 2. April summiert das Heft 99 Gulden und 34 Kreuzer. Das macht im Durchschnitt (der Gulden zu 60 Kreuzern) 4 Gulden, 9 Kreuzer pro Geschäftstag. Renner sind in der Fastenzeit das einfache Andachtsbüchlein zu 15 Kreuzern wie Crassets Heiliger Tod zu 20 Kreuzern. Schulbücher, wie das deutsch/lateinische Wörterbuch zu 40 Kreuzern oder die kleine Grammatik zu 8 Kreuzern, kommen hinzu. Gaetano Verani Philosophia universa speculativa peripatetica (München, 1684), von deren drei Bänden Jäcklin 1707 noch 279, 269 und 241 Exemplare im »Büchergewölb« liegen hatte, schlägt in Folio gleich mit 10 Gulden zu Buche, der Gegenwert für zehn Bücher der Monatsheiligen. In der Liste fehlt die Zeitung wie alles, was Jäcklin nicht über den Verkauf im Laden abgesetzt haben wird: Bücher, die auf's Land hinaus verkauft wurden; Produktion, die Kollegen weiterverkauften. Nur einmal gerät ein Titel in den Blick, den man heute als »Literatur« bezeichnen wird, ein Titel, den Jäcklin in Nürnberger Auflage des Jahres 1672 verkauft haben muß:[6]

den 1 April   Praxis Compendiosa 8vo 20
1 Simplicissimi Verkhehrte Welt 8vo    8
2 Alvari gramatica 8vo   ,,   6
2 - - Münchner Meßbücher 6

Die Dominanz der theologischen Materie in Jäcklins Laden verblüfft, auch wenn man einkalkuliert, daß Theologica - ob protestantische oder katholische - den Handel allerorten in Europa bestimmten. Fragte der Adel in München nicht nach den modischen »belles lettres«, die man in Europa gegenwärtig las. Wenn er sie nicht bei den Münchner Händlern erhielt, woher bezog er sie dann?

3Das Geschäft mit den »belles lettres« - scheint an München vorbeigegangen zu sein

Die Materie, die heute unter dem Wort »Literatur« firmiert, avancierte erst im Lauf des 18. Jahrhunderts zum kulturprägenden Feld. Wenig später gaben ihr die staatlichen Institutionen allen erdenklichen Nachdruck, auch und gerade in München. Die »Dichtung der Nation« verdrängte an den Schulen die Theologica - und wurde unter das Wort »Literatur« gestellt, das bislang Bücher der Gelehrsamkeit bezeichnete. Der Staat errang mit der »Literatur« im neuen Wortsinn einen Bildungsgegenstand, dessen Kanon von nun an in einer gesellschaftsweiten, indes von weltlichen Institutionen geprägten Debatte festgelegt wurde. Praktiken des Umgangs mit Texten wechselten - angefangen von der stillen Lektüre bis hin zur wissenschaftlichen Analyse und Interpretation - von den religiösen auf die poetischen und fiktionalen Texte der Nationen über. Die Monarchie des 19. Jahrhundert bemühte sich, diesen Wandel manifest werden zu lassen: Auf dem Platz vor der Residenz wurde das Franziskanerkloster abgerissen - ein alternativer Sakralbau, das Nationaltheater mit seiner griechisch-römischen Architektur nahm den Platz für sich ein. Im Inneren der Residenz errichtete sich die neue Monarchie eigene Räume mit dem Blick auf den neugestalteten Vorplatz. Hatten sich die Churfürsten des 18. Jahrhunderts mit chinesischem Porzellan und Spiegeln, mit Gemälden aus Italien, Frankreich und den Niederlanden umgeben, so schmückte die Monarchie des 19. Jahrhunderts die Wände mit Szenen aus der neuen nationalen Literatur: In monumentalen Wandfresken bildeten die Gewaltexzesse der Nibelungenkämpfe das Fundament. Feinsinniger gab man sich in den oberen Räumen mit Brückenschlägen von der neuen bürgerlichen Literatur über die jüngst vergangene deutsche Klassik Wielands, Schillers und Goethes zur Antike Homers und Vergils, die den Thronsaal mit eigener Strenge bestimmte.[7]

München fehlte im frühen 18. Jahrhundert - wie allen anderen Orten Europas - das spezifische »kulturelle Leben« das heute die Nachfrage nach poetischen und fiktionalen Texten schafft. Doch scheinen Münchens Leser - den Eindruck vermittelte Jäcklins Geschäft - nicht einmal Interessen an dem Feld gezeigt zu haben, das dem staatlich geförderten der poetischen Nationalliteratur voranging: Der gesamte Markt der europäischen »belles lettres« scheint an Jäcklins Geschäft vorbei gegangen zu sein.

Der Markt der Poesie, Kernland der »belles lettres«, entfiel der Stichprobe lediglich. »Opern-Bücher«, sie bildeten das beliebteste Sammelobjekt der Poesie-Liebhaber, wurden bei Lucas Straub verlegt - und in der Regel vor Ort zu den Aufführungen verkauft. Gedruckte Gratulationsgedichte wurden zu den jeweiligen Anlässen verteilt. Politische Panegyrik kam hinzu - die Stichprobe unterschlug diese Materialien, der VD17 bringt sie wieder ans Tageslicht.

Mit Romanen, dem zweiten im Verlauf wichtig werdenden Gebiet der »belles lettres«, machten im deutschsprachigen Raum vor 1730 vor allem die großen Verleger Leipzigs, Halles, Hamburgs und Nürnbergs Geschäfte. Das lag zum einen daran, daß an diesen Orten ein lokaler, den eigenen Ort attackierender Roman privater Indiskretionen gedieh. Studenten profilierten sich in Leipzig, Jena und Halle mit Romanen, in denen sie die »Liebes-Geschichte« [pl.] der Stadt an den Tag legten, ihre eigene Berichterstattertätigkeit indes unter »curieusen« Pseudonymen verbargen. Die Verleger mochten ihnen in die Anonymität folgen oder bei behördlichen Nachfragen ganz offen erklären, daß sie nicht wüßten, von welchem der vielen Studenten das Manuskript stammte, das sie, nichts ahnend, in den Druck nahmen. In Hamburg gab es eine den Studenten vergleichbare anonyme Gruppe, aus der heraus sich unter Pseudonymen gesichert das private Leben der Stadt vermarkten ließ, in der »jungen Welt«, die sich um die Oper der Stadt scharte. München fehlte die junge anonyme Gruppe, in der sich Romanautoren verstecken konnten. Doch hatte München auch am weniger skandalösen, weniger ortsbezogenen Geschäft mit der Belletristik keinen Anteil. Aus dem gesamten überregionalen Handel zogen sich Münchens Verleger in den 1670ern zurück, keiner von ihnen inserierte nach 1683 noch in den Leipziger und Frankfurter Meßkatalogen.

4Abseits des überregionalen Handels - ein spezielles Problem süddeutscher katholischer Verleger

Der Tausch Ware gegen Ware bestimmte die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt bis 1764. Wenige Titel schickte man in hohen Auflagen in den Handel. Breitgefächerte Sortimente tauschte man auf den Messen zusammen - mit ihnen mußte man im nächsten halben Jahr den heimischen Absatz bestreiten. Der Tausch Ware gegen Ware bewahrte vor Wechselkursverlusten, er minderte bei den Reisen das Risiko von Raubüberfällen. Problematisch wurde das Tauschgeschäft für den süddeutschen katholischen Raum in dem Maße, in dem es protestantischen Unternehmen des Nordens gelang, in das im 17. Jahrhundert wachsende Geschäft mit den internationalen »belles lettres« einzusteigen. Memoires, skandalöse Politica, Poesie, Romane, klassische Texte in modernen Übersetzungen, Bildungsgegenstände des gehobenen Geschmacks statt der universitären Gelehrsamkeit, Journale mit breiterem Publikumsanspruch - wurden im deutschsprachigen Raum früh von Verlagen Leipzigs herausgebracht, denen zu Paß kam, daß sie die Messe vor Ort hatten und bei der Beschaffung der Manuskripte auf Autoren und Übersetzer im Umfeld der sächsischen Universitäten zurückgreifen konnten. Münchner Verleger konnten diese Ware, selbst wenn sie sich in München hätte verkaufen lassen, auf den Messen nicht erwerben. Die Materie, die sie anzubieten hatten, bot keinen Gegenwert - Gleditschs Zeitungs-Lexicon hätte sich vielleicht in München verkaufen lassen, Jäcklins jesuitische Philosophie blieb jedoch in Leipzig unverkäuflich. Jäcklin hatte nichts zu bieten und bekam nichts. Ein Teufelskreis begann hier für den Münchner Anbieter, denn ihm entgingen in der Folge alle Manuskripte, die ihn ins Tauschgeschäft zurückgebracht hätten - deren Autoren zogen Verleger mit besseren Geschäftsbeziehungen vor. In direkten Verlagsbeziehungen, abseits der Messen tauschte Jäcklin, was er für seine Ware noch eintauschen konnte- katholische Theologie Münchens etwa gegen solche aus Ingolstadt.

Die Umstellung des Leipziger Meßverkehrs auf die Abrechnung mit Geld erlaubte in den 1760ern Münchens Verlegern den längst überfälligen Zugriff auf den europäischen Markt. Fortan konnten sie für Geld erwerben, was sich daheim für noch mehr Geld verkaufen ließ. Der Katalog der Buchandlung Nepomuk Fritz offenbarte, wie schnell sich die Angebotspalette in München daraufhin weitete.

Wer in München im frühen 18. Jahrhundert europäische Poesie, europäische Romane und die europäische chronique scandaleuse suchte, wer daneben ernsthaftere Werke der »belles lettres« schätzte - Fénelons Telemach, die Homer-Übersetzung der Dacier -, der düfte seine Lektürewünsche per Post befriedigt zu haben. Aus Amsterdam, Den Haag und Brüssel konnte man sich das Gewünschte noch immer zuschicken lassen. Die politischen und gesellschaftlichen Beziehungen waren gerade nach Brüssel bestens ausgebildet.

Daß man in München einen Eindruck von der Ware hatte, die überregional gehandelt wurde, erhellt sich am deutlichsten aus der politischen Produktion, die kurzfristig in München erschien, als Bayern gegen den Rest des Reiches im Spanischen Erbfolgekrieg das Bündins mit Frankreich einging. Hofbeamte gaben in den Jahren von 1702 bis 1704 politische Propaganda heraus, derzufolge die wahren Teutschen Bayerns Weg gingen - ganz nach dem Muster des europäischen Marktes schien ihnen ein Journal das geeignete Medium zu sein. Um brisant zu erscheinen, zogen sich die Autoren Pseudonyme zu. Der Verleger tat das seine, um nicht genannt zu werden. Gleichzeitig bemühten sich die Autoren, den heimischen Büchergeschmack zu treffen - Geschichten von Heiligen garnierten die politischen Gespräche, die das Journal von Nummer zu Nummer vorantrugen. Die rare Publikation verrät, daß die Zeiten für Neuerungen auf dem Buchmarkt nicht günstig standen. Diejenigen, die die neue Produktion inspirieren konnten, blieben an den Hof gebunden und fanden sich in den Jahren von 1680 bis 1730 die meiste Zeit mit diesem im fernen Brüssel, das vom internationalen Markt weit besser erfaßt wurde.


  1. Cf. hierzu die Gewerbeakte 5195 im Stadtarchiv München. [retour]
     
  2. Cf. Andreas Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München, 1983), p.274 ff.[retour]
     
  3. Pius Dirr, Buchwesen und Schrifttum im alten München. 1450-1800 (München, 1929), p.63.[retour]
     
  4. Stadtarchiv München: Akte Gewerbeamt 3636, Heft im Format A 5, Bl. 3v.[retour]
     
  5. Stadtarchiv München: Gewerbeamt 3636, Heft im Format A 5, Bl. 1r/v. - Quinquaginta selecti casus de septem gratię fontibus seu sacramentis in specie à P. Ludovico Michon S.J. (Monachii: Joannis Jęclini, 1710): {12: 4.Mor.334}. - Andreas Gail, Practicarum observationum deß Hochl Cammergerichts Speyr zwey Bücher, übers. Tob. Loncium (München, 1673): {12: 2.J.publ.g.176}. - Jean Crasset, Der sanfte und heilige Tod (München, 1711): {12: Asc.1248}. - Nicolaus Elffen, Panis coeli (Colonia, 1667): {12: Asc.1667}/ (Colonia, 1672). {12: Asc.1669}/ (Colonia, 1774). {12: Asc.1669.m}. - Michael Lang, Seelen-Wayd für die Schäfflein Christi (Augsburg, 1707): {12: 4.Asc.539.n}. - Exercitia christianae pietatis (München, 1646): {12: Asc.1777.m}. - Johann P. Rosenecker, Newes Rechenbüchl (München, 1673): {12: Math.p.480}.[retour]
     
  6. Stadtarchiv München: Gewerbeamt 3636, Heft im Format A 5, Bl. 3r. - Wegen der kurzen Zitierweise nicht mehr eindeutig zu identifizieren: Praxis Compendiosa sacrorum rituum et caeremoniarum in Missis (München, 1670): {12: Liturg.1080}, oder: Praxis compendiosa pro administratione Sacramentorum (München, 1695): {12: Liturg.1078}. - Des abentheurlichen Simplicii verkehrte Welt. Nicht, wie es scheinet dem Leser allein zur Lust und Kurtzweil. Sondern auch zu dessen aufferbaulichem Nutz annehmlich entworffen von Simon Lengfisch von Hartenfels. Gedruckt im Jahr 1672 [Nürnberg: W. E. Felßecker]. Cf. Manfred Koschlig, Grimmelshausen und seine Verleger. Untersuchungen über die Chronologie seiner Schriften und den Echtheitscharakter der frühen Ausgaben (Leipzig, 1939), p.248-252, und Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu Drucken des Barock, 3 (Stuttgart, 1991), p.1842-43, Nr. 13.[retour]
     
  7. Cf. Ernst Förster, Leitfaden zur Betrachtung der Wand- und Deckenbilder des neuen Königsbaues in München (München, 1834). - [Leo von Klenze,] Die Dekoration der inneren Räume des Königsbaues zu München [=Sonderdruck aus Allgemeine Bauzeitung] (Wien, 1842). - Le Palais du Roi à Munich (München, 1852). - Inken Nowald, Die Nibelungenfresken von Julius Schnorr von Carolsfeld im Königsbau der Münchner Residenz 1827-1867 (Kiel, 1978). - Eva-Maria Wasem, Die Münchner Residenz unter Ludwig I.: Bildprogramme und Bildausstattungen in den Neubauten (München, 1981). - Gerhard Hojer, Die Prunkappartements Ludwigs I. im Königsbau der Münchner Residenz. Architektur und Dekoration (München, 1992).[retour]